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Kubistische Fassade. Das Keystone-Gebäude der Schweizer Architekten Mathias Müller und Daniel Niggli im Prager Stadtteil Karlin beherbergt Geschäfte, Ausstellungsräume und Büros.

© EM2N Archtitekten

Prager Stadtteil Karlin ganz oben: Neues Leben nach der großen Flut

Vor 15 Jahren zerstörte das Hochwasser weite Teile Prags. Für den alten Industriestadtteil Karlin wurde die Katastrophe zur Chance – nach dem Wiederaufbau liegt er plötzlich im Trend.

Dieses Gebäude scheint nicht stillzustehen. Schon gar nicht, wenn Sonnenstrahlen auf die symmetrisch angeordneten Dreiecksflächen der Fassade fallen. Die Wände wirken, als ob sie einer gleichförmigen Bewegung folgen. Dort, wo sich die Straßen Pobrezni und Saldova kreuzen, im Prager Stadtteil Karlin, steht das Keystone-Gebäude. Der Komplex ist ein Blickfang, zieht den Betrachter in seinen Bann. Entworfen haben ihn die beiden Architekten Mathias Müller und Daniel Niggli aus dem Zürcher Büro EM2N.

Inspiriert wurden sie dabei von Konzepten, die im tschechischen Kubismus des 20. Jahrhunderts zu finden sind. Für Niggli und Müller steht die aufsehenerregende Fassade für „ein ambivalent lesbares Netz verschieden gerichteter Formen“. „Die zweischichtige Fassade schafft nicht nur eine skulpturale Außenhaut, sondern verbessert auch die Bauphysik der Fenster in Bezug auf die thermische und akustische Isolation“, beschreiben die Architekten das Keystone-Gebäude. Geschäfte und Ausstellungsräume für edle Produkte findet der Besucher im Erdgeschoss. Auf den oberen Stockwerken wird gearbeitet, an neuen Geschäftsmodellen getüftelt. Insgesamt umfasst der Komplex knapp 11 600 Quadratmeter.

Dass heute ein solch hochmodernes, futuristisch anmutendes Gebäude in Karlin steht, hätte wohl kaum ein Prager erwartet. Vor rund 15 Jahren wird die Stadt an der Moldau von einer der schlimmsten Hochwasserkatastrophen des Jahrhunderts heimgesucht. Vor allem Karlin ist betroffen. Im Sommer 2002 steht das Wasser der Moldau an manchen Stellen bis zu drei Meter hoch. Rettungsleute fahren mit dem Schlauchboot durch die überfluteten Straßen und suchen nach Verletzten, nach Menschen, die ihre Häuser nicht mehr verlassen können. Vier Gebäude stürzen ein, ein Dutzend weitere müssen abgerissen werden. Es dauert Wochen, bis die Einwohner in ihren Stadtteil zurückkehren können.

Ein schöner Platz zum Verweilen ist der Lyckovo Namesti mit dem imposanten Schulgebäude aus dem 20. Jahrhundert.
Ein schöner Platz zum Verweilen ist der Lyckovo Namesti mit dem imposanten Schulgebäude aus dem 20. Jahrhundert.

© Prague City Tourism

Der Schaden ist immens. Rund 2,8 Milliarden Euro kostet der Wiederaufbau. Bis heute sind an einigen Stellen des Viertels die Folgen des Hochwassers zu sehen. Die Europäische Union sagt schnell Fördermittel zu, und bald gibt es zahlreiche Investoren und Interessenten, die das Stadtbild nach der Flut verändern wollen.

Karlin war einst ein Industriestadtteil. Im 19. Jahrhundert wurden dort Dampfschiffe und elektrische Straßenbahnen gebaut. Die Stadt- und Immobilienplaner ließen im Laufe der vergangenen Jahre alte Fabriken entkernen und zu modernen Gewerbekomplexen umbauen. Karlin sollte nicht zur Geisterstadt werden.

Radikaler Wandel durch Katastrophe

Was die Einwohner nach der Flut zunächst verzweifeln ließ, war gleichzeitig der Startschuss für einen teils radikalen Wandel des Bezirks. Manche sprechen gar davon, dass das Hochwasser Karlin „zugute“ kam. Ein Beispiel dafür ist der Futurama Business Park, der für die Designausstellung 2011 fertiggestellt wurde. Auf mehr als 41 000 Quadratmetern bietet das Areal Arbeitsplätze für hunderte Unternehmen. Das Herzstück bilden drei Blöcke – angeordnet in U-Form –, ein vierter Block schließt den riesigen Gesamtkomplex ab. Der Geschäftspark soll für Flexibilität stehen, für eine moderne Bauweise, die den Firmeninhabern möglichst viel Spielraum lässt. Es gibt Großraumbüros und Einzelarbeitsplätze. Nachhaltigkeitskriterien stehen im Mittelpunkt des Baus.

Start-ups, IT-Firmen, Einzelkämpfer mit neuen Geschäftsideen strömen in den Bezirk. Mit der neuen Klientel kommt auch ein anderer Lebensstil in die Straßen und Gassen Karlins. Die jungen, hippen, vom Nerv der Zeit getriebenen Geschäftsleute und Ideengeber haben dem Viertel das einst schmuddelige Image abgestreift. Sie setzen auf Nachhaltigkeit, auf Innovation, mit ihnen kommen die Vegan- und Bioläden. Die neue Zielgruppe steht für den Kontrast zum historischen Bild Prags. Manch einer würde Karlin gar als das „Silicon Valley“ Tschechiens sehen – schließlich kommen immer mehr IT-Firmen in den Bezirk.

David Semerad (oben, 2.v.l.) verlegte sein Start-up ganz bewusst vom Zentrum in das neue Trendviertel Karlin.
David Semerad (oben, 2.v.l.) verlegte sein Start-up ganz bewusst vom Zentrum in das neue Trendviertel Karlin.

© STRV/dpa

Einer, der seine Büros vom Zentrum Prags nach Karlin verlegt hat, ist David Semerad, Chef des IT-Start-ups STRV. Seine Firma entwickelt Apps für das Smartphone. „Die frühere Lage war sehr zentral, aber das Umfeld war sehr touristisch und entwickelte sich nicht weiter“, sagt er. In Karlin sei das anders. Praktisch jeden Monat öffne ein neues trendiges Bio- oder Superfood-Restaurant. „Man spürt förmlich die Energie der vielen supermotivierten Menschen.“ Der 31-Jährige und seine vier Mitgründer wohnen auch selbst in dem früheren Industrieviertel, ebenso wie zahlreiche der 150 Mitarbeiter.

Doch Karlin zieht nicht nur Jungunternehmer an, sondern auch Familien mit Kindern, Künstler, Menschen, die sich in der Aufbruchsstimmung wiederfinden. Es gibt Straßencafés, Yogastudios, Konzertsäle und Ausstellungsräume. Auch dafür wurden ehemalige Fabrikgebäude umgebaut. Ein Beispiel dafür ist das Forum. 3000 Menschen können dort Konzerte mit bester Akustik hören, an Vorträgen und verschiedensten Veranstaltungen teilnehmen.

Der Futurama Business Park in Karlin.
Der Futurama Business Park in Karlin.

© Wikimedia Commons

Doch das nächste Hochwasser wird kommen. Und dann? Die Stadtverwaltung hat einen Deich bauen lassen. Im Ernstfall soll dieser um kilometerlange mobile Schutzwände ergänzt werden. Pumpen sollen das Wasser zudem aus der Kanalisation halten – auf diesem Weg war es 2002 in den tief gelegenen Stadtteil geströmt.

Doch manchen geht der rasante Wandel des Viertels bereits zu schnell – Denkmalschützern zum Beispiel. Sie befürchten, dass er zulasten vieler schützenswerter Gebäude geht. Und auch bei den Mieten machen sich die Veränderungen bemerkbar. Aus dem einstigen Arbeiterviertel ist ein Trendkiez geworden. Die Preise ziehen an. Schon jetzt ist die Sorge groß, dass Menschen mit geringen Einkommen verdrängt werden.

(dpa)

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