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Wirtschaft: Rote Trillerpfeifen und wenig Hoffnung

Der modernen Handy-Fabrik in Kamp-Lintfort droht das Aus. Der Kohlebergbau nebenan geht weiter

Kamp-Lintfort - Schon nach wenigen Sätzen versagt der blonden Mittvierzigerin die Stimme. „Wir haben gedacht, es geht hier weiter, und jetzt das“, sagt die zierliche Frau, bevor ihr die Tränen in die Augen steigen. Dann steckt sie ihre Mitarbeiterkarte in das Lesegerät – wie jeden Morgen. Doch jetzt, am ersten Tag nach der Hiobsbotschaft aus Taiwan, ist alles anders.

Kurz vor der Mittagspause am Tag zuvor hatten die Angestellten plötzlich die E-Mail auf dem Bildschirm, die das Aus für ihr Werk bedeuten kann: BenQ stellt die Zahlungen an die deutsche Tochter ein. Die Nachricht sprach sich schnell zu den Beschäftigten in der Produktion durch. Wenig später versammelte sich gut die Hälfte der 1700 Mitarbeiter vor der Kantine und starrte fassungslos auf eine Leinwand, auf der die Geschäftsführung sich mitteilte. Dann herrschte Stille. „Der Schock war für eine spontane Reaktion viel zu groß“, sagt ein Mitarbeiter.

Am Tag danach verteilen Mitglieder der IG Metall rote Trillerpfeifen und Mützen vor dem Werksportal. Aus allen Hallen strömen Männer und Frauen herbei, die meisten haben schon gehört, dass ihr Unternehmen jetzt auch den förmlichen Insolvenzantrag gestellt hat. Viele tragen einen weißen Kittel, fast alle ein blaues T-Shirt mit dem Aufdruck „Siemens“. Das ist kein Zeichen des Protests: Andere Hemden gibt es nicht – fast ein Jahr, nachdem der Konzern aus Fernost das Werk übernommen hat. „Irgendwann mussten wir unsere Größen für die neuen T-Shirts angeben, doch angekommen sind die nie“, sagt eine Mitarbeiterin.

Solche Details bestärken hier viele in ihrer Vermutung, dass alles eine abgekartete Sache sei: Siemens entledigt sich seiner defizitären Handysparte, und BenQ, das noch 350 Millionen Euro oben drauf bekam, wollte die Werke von Anfang an nicht am Leben erhalten. „Das ist so, wie wenn man euch das Fahrrad klaut, und eure Mutter gibt dem Dieb noch 100 Euro obendrauf“, ruft der IG- Metall-Funktionär Ulrich Marschner ins Mikrofon. Die Zuhörer wissen nicht, ob sie lachen oder weinen sollen.

Ministerpräsident Jürgen Rüttgers greift einen Verdacht auf, den Betriebsrat Michael Leucker geäußert hat. Die Taiwaner hätten gezielt Patente und Know-how mitgenommen und den Betrieb so „kannibalisiert“, mutmaßt der CDU-Mann. Die Mitarbeiter in den gelben T-Shirts nicken – sie gehören zur Abteilung, in der neue UMTS-Handys entwickelt werden sollten. „Schon seit einigen Monaten wurden die Einzelteile einer ganzen Entwicklungslinie nach Taiwan abtransportiert“, sagt Andrea Majewski. Die angelernte Arbeiterin ist seit 22 Jahren in der Fabrik. Anfangs setzte sie Relaissätze für die Post zusammen, dann formte sie Kabel, seit Beginn des Mobilfunkzeitalters verpackt sie die Handyprototypen. Eine Branche mit Zukunft, dachte sie.

Ein bisschen verkehrte Welt: Als die Zechen in Kamp-Lintforts Nachbarstädten Moers und Neukirchen-Vluyn schlossen, wechselten viele Bergleute zu Siemens. „Die Handyproduktion war immer die Alternative für die Zukunft zum Bergbau“, sagt Bürgermeister Christoph Landscheidt. Jetzt verabschiedet sich die Zukunftshoffnung sang- und klanglos – und wird vom Kohlebergbau womöglich überlebt. Unter Tage und in den Backstein-Industriebauten des Bergwerks West schräg gegenüber arbeiten noch 4800 Menschen mindestens bis 2018. Der BenQ-Zweckbau aus Glas und Stahl könnte dagegen bald leer stehen.

Dabei haben die Mitarbeiter schon einen Rettungsakt versucht: Mit ihrem Lohnverzicht von fast 30 Prozent wurden sie im Juli 2004 berühmt. Nachdem der damalige Siemens-Chef Heinrich von Pierer gedroht hatte, die Produktion nach Ungarn zu verlagern, stimmte die IG Metall einem Sondertarifvertrag zu: Die Mitarbeiter in Kamp-Lintfort und dem Werk Bocholt mussten für den gleichen Lohn 40 statt 35 Stunden arbeiten – in der Auseinandersetzung um die Arbeitszeit war das ein Dammbruch. Statt Weihnachts- und Urlaubsgeld sollte es einen erfolgsabhängigen Jahresbonus geben. Dafür garantierte Siemens die Arbeitsplätze. Doch diese Garantie gilt nur bis Jahresende.

„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, heißt jetzt auch in Kamp-Lintfort die Parole. „Vielleicht kauft uns ja Nokia“, sagt Joachim Möllenbeck, ein Angestellter mit kurz geschorenem Schädel. Sein gequältes Lächeln zeigt, er glaubt selbst nicht daran.

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