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Serie: Andere Zeiten, andere Berufe: Der Abtrittanbieter

Öffentliche Bedürfnisanstalten gab es schon im alten Rom. Später geriet diese Erfindung jedoch irgendwie in Vergessenheit Für Ersatz sorgten bis ins 19. Jahrhundert hinein mobile Toilettendienstleister mit Eimer und weitem Mantel

Am 9. Oktober 1694 schrieb Lieselotte von der Pfalz, Herzogin von Orleans, aus Fontainebleau: „Sie sind in der glücklichen Lage, scheissen gehen zu können, wann sie wollen, scheissen sie also nach Belieben. Wir sind hier nicht in derselben Lage, hier bin ich verpflichtet, meinen Kackhaufen bis zum Abend aufzuheben; es gibt nämlich keinen Leibstuhl in den Häusern an der Waldseite. Ich habe das Pech, eines davon zu bewohnen und darum den Kummer, hinausgehen zu müssen, wenn ich scheissen will, das ärgert mich, weil ich bequem scheissen möchte, und ich scheisse nicht bequem, wenn sich mein Arsch nicht hinsetzen kann.“

Friedrich Schiller übrigens lobte die Briefe der Pfälzerin, da sie die Wahrheit so hüllenlos darstellten. Interessant an der Passage aber ist, dass es in Fontainebleau tatsächlich keine Toilette gegeben haben soll, selbst das Prachtschloss Versailles konnte solche Gemächer nicht bieten. Man saß stattdessen auf edel verzierten Nachtstühlen, die die Dienerschaft untertänigst entleerte. Das ganze 17. Jahrhundert über ging das so, es wurden sogar Audienzen abgehalten, bei denen man gemeinsam auf dem Nachtstuhl saß und sich nach Lust und Laune unterhielt.

Beim einfachen Volk zählten Parkidyllen, enge Gassen, Flussufer und dunkle Ecken zu den beliebteren Orten, um sich zu erleichtern. Casanova berichtet: „Wir setzten unseren Spaziergang fort, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, und sprachen von Literatur und allerlei Gebräuchen. Plötzlich bemerkte ich in der Nähe von Buckingham-House zu meiner Linken im Gebüsch fünf oder sechs Personen, die ein dringendes Bedürfnis verrichteten und dabei den Vorübergehenden den Hintern zukehrten.“

Vieser
Durch die Welt der verschwundenen Berufe führt Sie die Journalistin und Autorin Michaela Vieser (r.). Von ihr erschien zuletzt das Buch "Tee mit Buddha - mein Jahr in einem japanischen Kloster". Die Illustrationen zur Serie stammen von der Grafikerin Irmela Schautz. -

© privat

Toiletten in Häusern – das hatten die Ägypter und die Römer vor der Zeitenwende, nicht aber die Londoner, Berliner oder Pariser der industriellen oder politischen Revolution. „Fortschritt“, so wurde eine Satire aus dem Satiremagazin Kladderadatsch von 1852 betitelt, herrsche alltäglich zur Mittagszeit in den Straßen Bremens, wenn nämlich alle Nachttöpfe der Stadt vor den Häusern standen, bereit, von einem Fahrdienst abgeholt zu werden. Den Fortschritt erkenne man an den wegeilenden Bürgern. Der Gestank muss bestialisch gewesen sein.

Im alten Rom soll es 144 öffentliche Latrinen und 116 Pissoirs an der Stadtmauer gegeben haben. Ein Spruch, der in einer solchen römischen Prachtlatrine gefunden wurde, lautet: „Cacator cave malum! Aut si contempseris, habeas Jovem iratum! – Hüte dich auf die Straße zu kacken! Sonst wird dich Jupiters Zorn treffen!“

Es kam das Mittelalter, es kam die Neuzeit. Die Sitten verrohten, die Städte wuchsen, das Gedränge wurde dichter, Krankheiten kursierten: Es galt etwas zu unternehmen. Anhänger eines besonders schlauen Gedankengangs im 18. Jahrhundert empfahlen, die mangelnde Hygiene durch eine relativ einfache Maßnahme auszugleichen: die Atmosphäre, so glaubte man, würde durch Erschütterungen von Glocken oder Geschützen desinfiziert. Die Unruhe, die hierbei erzeugt wurde, reinige die Luft von allem Übel. Selbst Sümpfe, so riet ein gewisser Baumes, könne man verminen, um sie von ihren krankheitsfördernden Dämpfen zu säubern. Kirchen, die wegen des Leichengestanks der in den Kellern verwesenden Körper nicht mehr messefähig waren, wurden mit Schießpulver in die Luft gejagt.

Zeitgleich krempelten in Bayreuth die Amtsinhaber ihre Hemdsärmel hoch und verfassten 1797 die erste behördliche Verordnung zur Einhaltung der öffentlichen Reinlichkeit: „Soll sich hinfür niemand unterfangen, weder bei Tag noch Nacht, an öffentlichen Plätzen, an Häusern, in den Hausplätzen hinter den Hausthüren sich seiner Unreinlichkeit zu entledigen und werden Eltern erinnert, ihre Kinder vor solchen ekelhaften Unsauberkeiten ernstlich abzuhalten, widrigenfalls sie selbst dafür zur Strafe gezogen werden.“

Nur ein knappes halbes Jahrhundert später war man in Berlin soweit: Die ersten beiden Pissoirs der Stadt wurden errichtet. Es war auch durchaus an der Zeit. Durch die veränderten Lebensumstände spielte sich das Leben viel mehr in der Öffentlichkeit ab als zuvor. Man war von früh bis spät unterwegs – was sollte man tun, wenn man mal musste? Wer reich war, konnte sich eine Kutsche anhalten, sich einmal ums Karree fahren lassen und danach erleichtert weitergehen. Alles schon vorgekommen!

1781 schrieb der Franzose Louis Sebastian Mercier: „Man hat öffentliche Bedürfnisanstalten errichtet, in denen jedes Individuum seine Notdurft für zwei Pfennige verrichten kann. Aber findet man Zeit, den Unternehmer aufzusuchen, wenn man sich im Faubourg St. Germain befindet und die Gedärme von Schwäche befallen fühlt? … Die Orte die die Aufschrift tragen: ,Es ist bei Körperstrafe verboten, hier seine Bedürfnisse zu verrichten‘ sind gerade die, in denen sich die meistbeschäftigten Leute zusammenfinden. Es bedarf nur eines Beispiels, um dreißig Nachahmer zu finden.“

Wo es also keine öffentlichen Toiletten gab, half ein sogenannter Abtrittanbieter. Ein mobiler Toilettendienst, der von Männern und Frauen ausgeführt werden konnte. Die Abtrittanbieter hielten sich vor allem auf Märkten und Messen auf, wie die Messe in Frankfurt, und luden mit lauter Stimme dazu ein, sich auf einem ihrer Eimer niederzulassen. Wer ein solches tiefes Bedürfnis empfand, wurde dann mit einem langen Ledermantel umwickelt, aus dem nur noch der Kopf schaute, und konnte so in der Öffentlichkeit das tun, was heute privat verrichtet wird. Der Thüringer Johann Christoph Sachse berichtet in seinen Erinnerungen, wie er in Hamburg von einer Frau angesprochen wurde: „Will gi wat maken?“ Als er sehen wollte, was er da machen sollte, war er schon gefangen: „Eh ich mich’s versah schlug sie ihren Mantel um mich, unter welchem sie einen Eimer verborgen hatte, dessen Duft mir seine Anwendung verriet.“ Er ergriff die Flucht, die Umstehenden lachten.

Auch in Edinburgh soll es dieses Dienstleistungsangebot gegeben haben, dort mit dem Spruch: „Who wants me for a bawbee?“ Bawbee war die Bezeichnung für die gängige Münzwährung. In Wien gab es K. K. privilegierte Retirade: kleine hölzerne Gefäße, die von arbeitstüchtigen Frauen betrieben wurden. Hier waren die Abtrittanbieterinnen bis Mitte des 19. Jahrhunderts groß im Geschäft. Offensichtlich störte es niemanden, dabei beobachtet werden zu können, solange die privaten Körperteile verdeckt waren. Bei den öffentlichen Pissoirs in Paris, den Vestibülen, konnte man noch lange Zeit sehen, wer sich darin aufhielt. Lediglich die Körpermitte wurde verdeckt.

Irgendwann gehörten dann das Café Achteck, das Café Wellblech oder der Pinkelwinkel zum europäischen Stadtbild. Endlich wieder Sitten wie im alten Rom. Dort war man mal wieder schlauer gewesen und hatte das Gesundheitssystem durchschaut: „Amice fugit te proverbium. Bene caca et irruma medicos. - Freund, Du vergisst das Sprichwort: Kacke gut und scheiß auf die Ärzte.“

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