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Vergessene Berufe: Der Allesschlucker

Steine, Eisen, Salpetersäure, glühende Kohle: den Mägen dieser Ess-Artisten graute vor nichts. In den zwanziger Jahren kam kein Zirkus ohne sie aus – auch wenn manch einer der Schausteller starb

Es war das Jahr 1788. Gerade eben hatten es zwei Franzosen geschafft, mit einem Ballon in die Luft zu steigen, da faszinierte eine weitere Überlistung der Natur ganz anderer Art die Menschen: „Der einzigartige Steinfresser, der wirklich einzige auf der Welt, der Steine isst und schluckt und sie dann in seinem Bauch klingen lässt, als wären sie in der Hosentasche.“

So kündete ein Programmzettel einen namentlich unbekannten, aber unter dem Künstlernamen Steinfresser berühmt gewordenen Mann an. „Unser außergewöhnlicher Steinfresser leidet unter keinen Unbequemlichkeiten“, hieß es weiter, „und das, obwohl er sich von einer Speise ernährt, die für jeden anderen sonst ein vollkommen ungenießbares Mahl darstellen würde.“ Dann bat der Veranstalter noch „die verehrten Damen und Herren aus dem Publikum“ Zünd- oder Kieselsteine mit zur Vorstellung zu bringen.

Das Kunststück des Steinfressers bestand darin, Steine in den Mund zu nehmen, sie mit den Kiefern zu zermalmen oder ganz hinunterzuschlucken. Sein Magen schien ihm die fettfreie Nahrung offensichtlich zu verzeihen. Erst trat er in verschiedenen Etablissements in London auf, später auch in New York.

Wie jede Galanummer umgab auch die des Steinfressers eine sonderbare Geschichte. Er sei als einziger Überlebender eines Schiffbruchs auf eine kleine Insel vor Norwegen angespült worden und hätte sich dort 13 Jahre lang nur von Steinen ernährt, hieß es. Nun, da er wieder zurück auf festem Boden sei, halte er sich weiterhin an seine Diät.

Es dauerte nicht lange, da hatte der Steinfresser jede Menge Nachahmer.

Ein gewisser Siderophagus „verzehrte Eisen in jeder Form: Nägel, Nadeln, Draht und Nußknacker eingeschlossen. Die Zuschauer werden aufgefordert, einen Bund mit Schlüsseln, einen Bolzen oder einen Schürhaken mitzubringen, was er alles so essen wird, als seien es Ingwerkekse.“ Und selbst Siderophagus wurde kopiert – allerdings überlebten nicht alle die Folgen ihres Plagiats.

Siderophagus’ Frau wiederum, Sarah Salamander, spezialisierte sich auf „aqua fortis“, Salpetersäure, die sie hinunterspülte „wie Dünnbier“. Andere Schausteller verschluckten Uhren und ließen sie aus ihrem Bauch heraus ticken. Später dann Glühbirnen, die aus dem Innern des armen Schluckers herausleuchteten. Scheren, Schwerter, Regenschirme, kleine Gefäße – die menschliche Fantasie kennt im Grotesken keine Grenzen. Kein Mensch weiß, wie die Mägen dieser Varietékünstler die ungewöhnliche Kost aushalten konnten.

Auch das Militär entdeckte die Schluckakrobaten für sich. Ein Allesschlucker namens Tarrare wurde von Napoleons Offizieren vom Varieté weggeholt und als Spion eingesetzt: Er verschluckte ein Kistchen mit geheimen Botschaften, das er dann vor Ort über seinen Hinterausgang hervorholen sollte. Da er leider mit einem einzigartigen Magen, nicht aber mit Intelligenz gesegnet gewesen war, wurde nichts aus dem Versuch: Tarrare verplapperte sich beim Überliefern der Nachricht und der Feind hielt ihn gefangen, bis das Kästchen ans Tageslicht kam. Die Spionagekarriere war damit vorbei.

Erzählenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Geschichte einer Berufsgruppe, auf die weniger die Bezeichnung Allesschlucker als vielmehr der Begriff Vielfresser passt. Bereits der römische Autor Vospicius gibt Auskunft darüber, dass am Hofe des Kaisers Aurelius ein Bauer eingeladen war, der ein Ferkel, ein Schaf und danach ein Wildschwein verzehrte. 1511 hatte Kaiser Maximilian einen ähnlich hungrigen Bauern geladen, der vor dem Hofstaat ein rohes Kalb zerfleischte. Als der Bauer sich dann auf den Kadaver eines Schafs stürzte, war das genug der Unterhaltung und die Vorführung wurde abgebrochen.

Ein anderer Vielfraß hatte weniger Glück: Am dänischen Hof lebte ein Schauspieler, der den Appetit und Leibesumfang von zehn Männern besaß. Als der König vernahm, dass der Schauspieler aber nicht besser spielen konnte als die anderen Schauspieler, wurde er zum Tode verurteilt: der „Vertilger der Nahrung“ stelle „ein öffentliches Ärgernis dar“, befand der König. Hätte er besser gespielt, hätte der Monarch ihm seine Ausschweifung gegönnt.

Im 17. und 18 Jahrhundert traten Vielfresser gehäuft auf Jahrmärkten und in Spelunken in England auf, es musste aber ein Franzose kommen, um das Handwerk zirkustauglich zu machen: Dufour, der seit 1783 europaweit, auch in Berlin, auftrat. Als echter französischer Feinschmecker hatte sich dieser Vielfresser eine interessante Menüfolge einfallen lassen, die Stein-, Alles- und Eisenfresser als einfallslose Langweiler dahinstellte: „Das Mahl begann mit der Suppe – Nattern in schwimmendem Öl. Auf jeder Seite stand eine Obstplatte, die eine enthielt Disteln und Kletten, die andere rauchende Säure. Oft waren Beilagen aus Schildkröten, Ratten, Fledermäusen und Maulwürfen mit glimmernder Holzkohle garniert.“

So ging es weiter. „Anstatt des Fischgangs verspeiste er ein Gericht aus Schlange in kochendem Teer und Pech. Seinen Braten bildete ein Waldkauz in einer Soße aus glühendem Schwefelkies. Der Salat erwies sich als Spinnennetze, die voll mit Knallfröschen waren, eine Platte mit Schmetterlingsflügeln und Würmern, dazu ein Gericht von Kröten, die von Fliegen, Grillen, Heuschrecken, Küchenschaben, Spinnen und Raupen umgeben waren. Er spülte das alles mit brennendem Branntwein hinunter, und zum Nachtisch aß er vier große Kerzen, die auf dem Tisch standen, die seitlichen Hängelampen samt ihrem Inhalt und schließlich die große Mittellampe mit Öl, Docht und allem Drum und Dran.“

Vieser
Durch die Welt der verschwundenen Berufe führt Sie die Journalistin und Autorin Michaela Vieser (r.). Von ihr erschien zuletzt das Buch "Tee mit Buddha - mein Jahr in einem japanischen Kloster". Die Illustrationen zur Serie stammen von der Grafikerin Irmela Schautz. -

© privat

Dufour markiert den Übergang des Allesschluckers vom einfachen Schausteller zum Künstler. Denn er kombinierte seine Gabe, alles schlucken zu können, mit Spezialeffekten und Humor.

Das taten auch ein Herr Max Wilton, der, wie zuvor ein gewisser Mac Norton – beide bekannt unter dem Künstlernamen „Das lebende Aquarium“ –, im Zirkus Busch aufgetreten war. Die Zirkusikone Paula Busch schreibt in ihren 1957 erschienenen Memoiren „Das Spiel meines Lebens“ über Wilton: „Die Nummer war mit starken Effekten gewürzt, genauso wie das Plakat, auf dem sich Wilton als eleganter Frackkavalier zeigte.

Sein Frackhemd leuchtete wie die Scheibe eines Aquariums, hinter der sich das Innere des Herrn Wilton offenbarte: Zwischen den Rippen des Gentleman spielten wie zwischen Korallenriffen Fische, tummelten sich Molche und züngelten Miniaturseeschlangen. Das war natürlich etwas übertrieben, deutete aber an, was Max Wilton auf der Bühne tat: Er angelte sich lebende Fische und Amphibien aus einem kleinen Becken und schluckte sie hinunter. Danach trank er mehrere Liter Wasser, wartete eine Weile und lies die Fische in seinem Bauch schwimmen. Er rauchte genüsslich eine Zigarette, ließ noch etwas mehr Zeit verstreichen, holte dann ein Tier nach dem anderen wieder heraus und spie zum krönenden Abschluss das Wasser als Fontäne ins Publikum. Der Kollege Mac Norton schloss seinen Akt mit den Worten: „All alive and still kicking.“ Und als er im Alter von 77 starb, war er stolz darauf, dass nie ein Tier bei seinen Tricks gestorben war.

Aus ästhetischen und ethischen Gründen ist das Allesschlucken heute keine Zirkusattraktion mehr. Während in den zwanziger und dreißiger Jahren kein Allesschlucker in irgendeiner Form im Zirkus oder auf Vaudeville-Shows fehlen durfte, sind heute einzig die Schwertschlucker noch auf den Brettern, die die Welt bedeuten, anzutreffen. Viel- oder Schnelless-Wettbewerbe gibt es dagegen noch heute: 68 Burger schafft der Weltmeister in acht Minuten. Guten Appetit.

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