zum Hauptinhalt
Die Zentrale der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main. Neue Technologie wie Blockhain oder Bitcoin entziehen staatlichen Institutionen die Kontrolle über das Geld.

© Boris Roessler/dpa

Nach dem Urteil zum Anleihekauf der EZB: Wie Europas neues Finanzsystem aussehen sollte

Nur durch einen Tabubruch konnte die EZB 2010 die Europas Märkte vor einem Kollaps bewahren. Jetzt es Zeit für "disruptive Innovationen" im Finanzsystem, schreiben zwei Forscher der ETH Zürich

Die Herausforderungen bestehen nicht erst seit heute. Bereits am 6. und 7. Mai 2010 schrillten in der Europäischen Zentralbank (EZB) die Alarmglocken. Die europäischen Finanzmärkte drohten schlagartig zusammenzubrechen. Der Anleihenmarkt und der Interbankenmarkt, also der Markt, an dem sich die Banken gegenseitig Geld ausleihen, schienen auszutrocknen. Das Vertrauen war auf ein nicht tolerierbares Level gesunken. Die EZB musste eingreifen. Schnell griff die Angst auch auf die Aktien- und Devisenmärkte über, auf Letzterem stauten sich die Aufträge regelrecht, das weltgrößten Devisenabwicklungssystem CLS schien komplett überlastet.

Ein Tabubruch rettet die Märkte - vorerst

Nur durch einen Tabubruch der EZB und das umfangreiche Aufkaufen von europäischen Staatsanleihen am Sekundärmarkt schaffte es die EZB, die Lage zu stabilisieren. Der Preis dafür war hoch. Hunderte Milliarden Euro wurden seither für Europäische Staatsanleihen ausgegeben. Im Januar 2015 kündigte die EZB an, bis im September 2016 monatlich weitere 60 Milliarden Euro in Staatsanleihen zu investieren. Die Zinsen sanken mehr oder weniger auf 0 Prozent. Damit konnte die EZB die Aktienmärkte zwar am Laufen halten.

Kritiker monieren jedoch, dass der Wettbewerbsmechanismus der Märkte und der Kapitalismus im Prinzip am Ende seien. Sie weisen darauf hin, dass Unternehmen am Leben gehalten werden, die eigentlich nicht mehr überlebensfähig sind, und Gewinne privatisiert werden, während Kleinsparer und Steuerzahler die Zeche bezahlen.

Doch jetzt hat das Bundesverfassungsgericht nach dreieinhalbjährigem Verfahren Klagen gegen das umstrittene Anleihenkaufprogramm der Zentralbank zurückgewiesen. Das sogenannte OMT-Programm verstoße wegen begrenzender Auflagen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nicht gegen das Verbot der monetären Haushaltsführung in Eurokrisenstaaten, entschieden die Karlsruher Richter am Dienstag (21. Juni 2016). Streitpunkt war die umstrittene Ankündigung von EZB-Chef Mario Draghi, zur Finanzmarktberuhigung unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen.

Auch in den USA steht die Notenbank FED in der Kritik. Für ihr sogenanntes „Quantitative Easing“ (QE-Programm) wurden bereits mehr als vier Billionen Dollar ausgegeben. Die Verschuldung der öffentlichen Hand hat ein ähnliches Niveau erreicht wie zum Ende des zweiten Weltkriegs. Und eine Umkehrung des Trends ist weit und breit nicht in Sicht.

Der Zweite Senat beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit Ulrich Maidowski (l-r), Sibylle Kessal-Wulf, Monika Hermanns, Peter Huber, Andreas Voßkuhle, (Vorsitzender des Senats und Präsident des Gerichts), Herbert Landau, Peter Müller und Doris König, verkündet am 21.Juni 2016 das Urteil zu den EZB-Anleihenkäufen.
Der Zweite Senat beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit Ulrich Maidowski (l-r), Sibylle Kessal-Wulf, Monika Hermanns, Peter Huber, Andreas Voßkuhle, (Vorsitzender des Senats und Präsident des Gerichts), Herbert Landau, Peter Müller und Doris König, verkündet am 21.Juni 2016 das Urteil zu den EZB-Anleihenkäufen.

© Uli Deck/dpa

Die Zeichen stehen weiter auf rot

Aktuelle Entwicklungen geben ebenfalls keinen Anlass für Optimismus. Die Volatilität an den Aktienmärkten nimmt zu, das Risiko eines neuen Einbruchs der Finanzmärkte steigt. Viele haben zudem Angst vor einem Brexit, bei welchem der Interbankenmarkt abermals in Schwierigkeiten geraten könnte. Die jüngsten Zugewinne bei digitalen Währungen wie Bitcoin sind ein weiterer Hinweis auf die Verunsicherung der Anleger.

Die bisherige Politik der Notenbanken stösst an ihre Grenzen. Am 8. Juni 2016 forderte die Deutsche Bank, die EZB müsse den Kurs ändern. Auch die EZB-Politik unterliege dem Gesetz abnehmender Grenzerträge. Vor allem aber verliere sie zunehmend ihre Glaubwürdigkeit unter den Marktteilnehmern und – schlimmer noch – in der Öffentlichkeit. Die EZB reagiere darauf mit immer extremeren geldpolitischen Maßnahmen.  Dies führe zu Fehlallokationen in der Realwirtschaft, die sich nur zu immer höheren Kosten wieder beheben lassen würden. Die Verlierer seien die Sparer, während sich Aktien- und Immobilienbesitzer die Hände reiben würden.

Indem sie sich –„koste es, was es wolle“ – zum ultimativen Retter der Eurozone aufschwinge, erlaube sie den Politikern, ihre Hände in den Schoß zu legen, statt durch Reformen Wachstum und öffentliche Haushalte auf Vordermann zu bringen.

 Die neuen Modelle sind die alten

Es erstaunt also nicht, dass die Wirtschaftsführer nach neuen Modellen Ausschau halten. Interessanterweise sind es oft alte Rezepte, die wieder neu aufgewärmt werden.  Zum Beispiel sprach schon Milton Friedmann von "Helikoptergeld". Das war 1969. Ähnliche Konzepte gehen auf die 1920er- und 30er- Jahre zurück. Zwar sagt Mario Draghi, dass Helikoptergeld nicht in Frage käme. Es würde aber verwundern, wenn die EZB darüber nicht nachdenken würde.

Beim Konzept des Helikoptergeldes geht es im Prinzip darum,  dass bei einer Ausweitung der Geldmenge das Geld direkt – ohne Umweg über die Banken – an die Bürger verteilt würde. Das Konzept wurde auch schon als das „Quantitative Easing for the People“ bezeichnet.  Je nach Befürworter sollen damit entweder Investitionen und Konsum gestärkt oder eine drohende Deflation verhindert werden.

Das Stichwort des „Quantitative Easing for the People“ wird vermehrt auch in Zusammenhang mit der Idee eines universellen Grundeinkommens verwendet. Der Staat soll die Bürger direkt finanziell unterstützen. Diese haben dann die Möglichkeit, Ihre Kreativität und Ihr Potenzial voll zu entfalten. Der Druck auf den Mittelstand – auch infolge Künstliche-Intelligenz-basierter Automatisierung – würde abgefedert, der Konsum am Leben erhalten, und die Wirtschaft neuen Schub bekommen. Der Verunsicherung der Bürger würde begegnet, dem Populismus der Wind aus den Segeln genommen.

Zwar konnten die teuren Maßnahmen der Wirtschaftshüter bisher Zeit gewinnen. Unsere Probleme lösen konnten sie indes nicht. Folglich braucht es einen neuen Ansatz. Das Geld muss besser zum zentralen Akteur eines jeden Marktes kommen, dem Konsumenten, doch alle bisher erwogenen Instrumente haben gravierende Nachteile.

Erklärgrafik zum Quantitave Easing der EZB.
Erklärgrafik zum Quantitave Easing der EZB.

© dpa- S. Stein, Redaktion: T. Fischer

Jetzt sind disruptive Innovationen gefragt

Fundamental neue Lösungsansätze sind nötig - und möglich! Wir müssen in neuen Kategorien denken. Im Folgenden schlagen wir vor, durch Verknüpfung des Internets der Dinge mit Block Chain Technologien ein neues, multi-dimensionales Finanzsystem (Finance 4.0) zu schaffen. Es könnte gleich mehrere Probleme lösen:

1. Vertrauen auf eine neue Basis stellen:Vor wenigen Monaten titelte der Economist: "In Bitcoin We Trust". Die dezentral verwaltete Währung garantiert die Zahlungsabwicklung, ohne dass sie einer Bank bedarf. Mit der zugrundeliegenden "Block Chain" Technologie kann man zwischenzeitlich auch Verträge zuverlässig abwickeln, direkt zwischen den Geschäftspartnern (von Peer zu Peer, ohne Juristen). Damit können ganze Geschäftsprozesse und Organisationen auf eine neue Basis gestellt werden.

Mit den Möglichkeiten dezentraler Selbstorganisation zeichnet sich nun endlich ein Weg aus dem heutigen Dilemma der Überregulierung ab. Der Firma Etherium aus dem Schweizer "Cryptovalley" gelang gerade das Kunststück, mehr als 150 Millionen durch Crowd Funding zu mobilisieren – ein absoluter Weltrekord!

2. Externalitäten messen und Kreislaufwirtschaft aufbauen: Mit dem Internet der Dinge lassen sich nun endlich die externen Effekte von Interaktionen zwischen Individuen, Unternehmen und Umwelt messen. In Smartphones eingebaute und zusätzliche Sensoren lassen sich jetzt nutzen, um solche "Externalitäten" zu messen: negative wie Lärm, Stress, Emissionen, und Abfall, aber auch positive wie Kooperation und Zufriedenheit. Den Externalitäten könnte durch entsprechende Marktmechanismen ein Preis oder Wert zugeordnet werden; verschiedene Externalitäten könnten durch verschiedene Währungen repräsentiert werden, die das heutige Geldsystem ergänzen würden.

Mit Externalitäten ließe sich also Geld verdienen. Damit würden differenzierte Anreizsysteme denkbar, welche die Steuerung oder Selbstorganisation komplexer Systeme unterstützen könnten. Bei geeigneter Spezifizierung gäbe es insbesondere Anreize für die Wiederverwendung von Abfall. Damit entstünde die lange herbei gesehnte Kreislaufwirtschaft, die man bisher mit politischer Regulierung und ingenieurwissenschaftlicher Planung kaum in Gang gebracht hat, quasi von alleine. Ressourcen würden effizienter und mehrfach verwendet.

Drohende Ressourcenkrisen könnten drastisch entschärft werden. Ähnliche Anreize könnten soziale Kooperation, Umwelt- und Klimaschutz fördern. Durch Berücksichtigung der Externalitäten entstünde endlich ein liberaler und effizienter Kapitalismus, der gleichzeitig soziale und ökologische Bedürfnisse befriedigt.

3.  Ökonomie und Demokratie versöhnen: Jeder spricht von der digitalen Ökonomie und dass Big Data das Öl des 21. Jahrhunderts sei; Open Data könne zusätzliche Wirtschaftskraft im Wert von drei bis fünf Billionen Dollar pro Jahr entfalten. Doch bisher fehlen uns leider die Daten! Google, Facebook, und Amazon werden sie uns nicht geben. Wir müssen sie selber erzeugen.

Nehmen wir nun einmal an, wir würden alle mit dem Internet der Dinge gemeinsam unsere Umwelt (anonymisiert) vermessen und diese Daten mit anderen teilen, also eine Art Wikipedia für Echtzeitdaten aufbauen. Dann würde sich alles schlagartig ändern. Jeder könnte ein Datenbusiness betreiben. Jeder könnte bessere Entscheidungen treffen. Jeder könnte sich besser am Gemeinwesen beteiligen ("digitale Demokratie"). Lesen Sie hier eine Debatte zum Thema auf "Causa", dem Debattenportal des Tagesspiegels.

Vor dem Urteil: Im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe warten am 21.Juni 2016 Peter Gauweiler (CSU, l-r) , Herta Däubler-Gmelin (SPD) und Gregor Gysi (Die Linke) auf den Beginn der Urteilsverkündung zu EZB-Anleihenkäufen.
Vor dem Urteil: Im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe warten am 21.Juni 2016 Peter Gauweiler (CSU, l-r) , Herta Däubler-Gmelin (SPD) und Gregor Gysi (Die Linke) auf den Beginn der Urteilsverkündung zu EZB-Anleihenkäufen.

© Uli Deck/dpa

Jeder könnte ein Datenbusiness betreiben ("digitale Ökonomie"). Neue Arbeitsplätze würden entstehen. Und jeder könnte mit den Daten, die er bereit stellt, Geld verdienen. Das Geld würde wie bei Bitcoin bottom-up, also von unten erzeugt, durch Messung der Externalitäten und Bereitstellung der Daten. Es entstünde neue Kaufkraft durch neue Leistung. Der Ansatz könnte ein Grundeinkommen ersetzen oder ergänzen. Er könnte auch Geld für das Gemeinwesen erzeugen (das, was heute durch Steuern erreicht wird, die aber im Roboter-Zeitalter kaum noch funktional erscheinen). Die unbegrenzten ökonomischen Möglichkeiten der digitalen Wirtschaft könnten endlich erschlossen werden. Eine Umverteilung wäre nicht nötig. Würde man es richtig anpacken, entstünde ein offenes Informations-, Innovations-, Produktions- und Service-Ökosystem, das neue Chancen für alle bietet.

Mit anderen Worten: Es braucht jetzt einen offenen Daten- und Innovationsmarktplatz, verknüpft mit dezentralisierter Geldschöpfung und Anreizen zum Dienst an der Gesellschaft. Schaffen wir endlich ein Finanzsystem, dass darauf beruht, a) dass jeder in einem umfassenden, dezentralisierten Daten- und Innovationsnetzwerk Leistungen anbieten kann und dafür in multiplen Währungen bezahlt wird; und b) dass sich Communities (zum Beispiel Regionen) dezentral eigene Ziele setzen können sowie passende Anreize, um sie zu erreichen. Das fördert Wettbewerb, Ko-Kreation, Ko-Evolution und kollektive Intelligenz – die Erfolgsprinzipien der vernetzten Gesellschaft.

Das Potenzial eines solchen Systems wäre riesig. Erstens würde es Anreize für jede und jeden schaffen, Innovationen voranzutreiben und damit den Wert der selbst erzeugten Währungen zu erhöhen. Zweitens würden Menschen dafür belohnt, Dienste an der Allgemeinheit zu erbringen.

Das Internet der Dinge würde es erlauben, die nötigen Daten zu erzeugen. Mit sogenannten Smart Contracts könnten die digitalen Währungen automatisch ausbezahlt werden, so wie es von der Community vorher festgelegt wurde. Damit entstünde ein Wettlauf um die besten Ziele, Lösungen und Dienste. Es entstünden wirksame Anreize und Möglichkeiten, sich für unseren Planeten und unsere Gesellschaft zu engagieren.

Noch gibt es das oben beschriebene Finanzsystem 4.0 nicht. Es braucht Forschungs- und Entwicklungsarbeit, um es aufzubauen. Bis es einsatzbereit ist, wird die EZB sicher noch ein paarmal Rettungshubschrauber schicken müssen.  Aber alle notwendigen Zutaten für ein Upgrade unseres Finanzsystems und unserer Wirtschaft sind nun da (namentlich das Internet der Dinge, Block Chain Technologie und Komplexitätswissenschaft).

Damit ist Licht am Ende des Tunnels erkennbar. Europa kann bald wieder aufblühen und seine Diversität in einen Vorteil verwandeln. Nun braucht es eine Aufbruchsstimmung, Entdecker- und Unternehmergeist. Auch für die Förderung des Öls des 21. Jahrhunderts gibt es viel zu tun. Worauf warten wir noch? Packen wir es an!

Die Autoren: Dirk Helbing ist Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich und Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften "Leopoldina". Er leitet die Konzeption der Nervousnet Plattform, welche das Internet der Dinge für alle Bürger erschließen möchte. Stefan Klauser ist FinTech-Experte und leitet das Themengebiet "Digitale Gesellschaft". Zuvor arbeitete er am Schweizer Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation.

Dirk Helbing ist Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich und Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften "Leopoldina". Er leitet die Konzeption der Nervousnet Plattform, welche das Internet der Dinge für alle Bürger erschließen möchte.
Dirk Helbing ist Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich und Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften "Leopoldina". Er leitet die Konzeption der Nervousnet Plattform, welche das Internet der Dinge für alle Bürger erschließen möchte.

© privat

Stefan Klauser ist FinTech-Experte und leitet das Themengebiet "Digitale Gesellschaft". Zuvor arbeitete er am Schweizer Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation.
Stefan Klauser ist FinTech-Experte und leitet das Themengebiet "Digitale Gesellschaft". Zuvor arbeitete er am Schweizer Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation.

© privat

Dirk Helbing, Stefan Klauser

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false