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Berlin Science Week 2024: Demokratien unter Druck
Liberale Demokratien müssen sich gegen autoritäre Übergriffe von außen und innen zur Wehr setzen. Die Bedrohung ist nicht neu. Welche Demokratien sind resilient? Wie erreicht man Resilienz?
Stand:
Liberale Demokratien stehen weltweit unter Druck. Autoritäre und illiberale Regimes stellen ihre Überlegenheit gegenüber den vermeintlich dekadenten liberalen Demokratien etwa bei der Bekämpfung von Armut, Kriminalität, dem Klimawandel oder Pandemien heraus. Aber der Rückzug liberaler Demokratien zeichnet sich nicht so sehr durch autoritäre Machtwechsel aus, auch wenn es Putschversuche gegen demokratisch gewählte Regierungen gibt, zurzeit vermehrt etwa in Westafrika.
Die Gefahr für liberale Demokratien geht vielmehr von Politikern und Politikerinnen aus, die durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen sind und mithilfe von demokratischen Verfahren liberale Institutionen aushöhlen. Dabei sind Viktor Orbán (Ungarn), Narendra Modi (Indien), Jair Bolsonaro (Brasilien) oder Donald Trump (USA) nicht etwa auf der Basis einer illiberalen Agenda gewählt worden. Sie haben sich gegenüber etablierten Parteien mit dem Versprechen eines demokratischeren Regierens, das sich an den wahren Bedürfnissen des Volkes ausrichtet, an den Wahlurnen durchgesetzt. Populistische Parteien gewinnen an Wählerstimmen, indem sie etablierten Parteien Regierungsversagen und moralischen Bankrott vorhalten. Einige von ihnen wurden wiedergewählt, nicht weil, sondern obwohl sie die Unabhängigkeit der Gerichte beschnitten, die Medienfreiheit eingeschränkt, die Autonomie der Zivilgesellschaft begrenzt und die Wissenschaftsfreiheit eingeengt haben.
Liberalen Demokratien fehlt seit Ende des Kalten Krieges ein attraktives Gegenmodell
Seit 2019 untersucht das Berliner Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS)“ die Ursachen und Erscheinungsformen der weltweiten Krise liberaler Gesellschaftsordnung. Die Unzufriedenheit mit wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ist ein wesentlicher Erklärungsfaktor für den weltweiten Aufstieg illiberaler Kräfte. Es greift aber zu kurz, darauf den Rück- bzw. Abbau liberaler Institutionen, wachsende Ungleichheiten, mangelnde Partizipationschancen, Migrationsströme, die Ausbreitung von Pandemien oder den fortschreitenden Klimawandel zurückzuführen. Sonst würden beispielsweise Parteien, die für mehr soziale Gerechtigkeit durch gesellschaftliche Umverteilung eintreten, nicht in vielen Ländern an politischem Einfluss verlieren. In Deutschland beispielsweise kommen die SPD und Die Linke zurzeit in Umfragen auf weniger als 20 Prozent.

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Die Unzufriedenheit von Wählerinnen und Wählern hängt auch mit ihrer subjektiven Wahrnehmung zusammen, die nicht nur immer mehr von den sozialen Medien beeinflusst wird, sondern auch von ihren politischen Erwartungen. Liberalen Demokratien fehlt seit dem Ende des Kalten Krieges ein attraktives Gegenmodell. Sie müssen sich immer mehr an ihren eigenen Versprechen messen lassen, als dem Vergleich mit dem chinesischen Einparteienstaat, dem islamischen Mullah-Regime des Irans oder dem aggressiven Autoritarismus Putins standzuhalten. Populistische Parteien bieten deshalb selten einen illiberalen Gegenentwurf an, sondern präsentieren sich als demokratischere Alternative zu etablierten Parteien. Denen werfen sie vor, das liberale Versprechen auf eine bessere Zukunft für alle nicht einzulösen. Nicht eingelöste oder gar gebrochene Versprechen werden in Zeiten von Krisen besonders spürbar und damit politisch mobilisierbar.
Die Gefahr für liberale Demokratien geht von Politiker:innen aus, die durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen sind.
Tanja A. Börzel
Dabei nutzen populistische Parteien durchaus die Unzufriedenheit und Enttäuschung der Bürgerinnen und Bürger, um gegen Grundprinzipien der liberalen Demokratie vorzugehen, wie die Offenheit von Landesgrenzen für politisch Verfolgte, die Gewaltenteilung oder Rechte von ethnischen, religiösen oder sexuellen Minderheiten. Sie tun dies aber im Namen der Demokratie. Kritik an ihren Programmen zur Einschränkung der Unabhängigkeit von Gerichten, der Medien oder zivilgesellschaftlicher Organisationen weisen sie mit dem Argument des demokratischen Mehrheitswillens zurück. Sie argumentieren, dass durch die Delegation von politischer Autorität an Gerichte, Zentralbanken oder internationale Institutionen der Mehrheit politische Entscheidungen systematisch entzogen werden. Der Kampfruf der Brexit-Befürworterinnen und Befürworter von „Take Back Control“ findet seine Entsprechung in der geplanten Justizreform der nationalistisch-ultrareligiösen Regierung von Benjamin Netanjahu in Israel, die dem von der PiS-Regierung durchgeführten Rückbau rechtsstaatlicher Institutionen in Polen zu folgen scheint, oder dem von Viktor Orbán verfolgten Umbau Ungarns in eine illiberale Demokratie, von dem sich auch der slowakische Ministerpräsident Robert Fico oder der serbische Präsident Aleksandar Vučić inspirieren lassen.
Heuchelei und Doppelmoral ist ein weiterer Vorwurf, den Populisten oft gegen Kritikerinnen und Kritiker illiberaler Reformen ins Feld führen. Liberale Gesellschaften legen an sich selbst andere Maßstäbe an, etwa bei Einschränkungen des Versammlungsrechts für Corona-Gegner oder der Annahme chinesischer Gelder durch Kultureinrichtungen oder Universitäten.
Warum sind einige Demokratien widerstandsfähiger als andere?
Die unerfüllten Versprechen liberaler Demokratien sowie ihre Doppelmoral stehen im Zentrum der kritischen Auseinandersetzung um liberale Werte und Institutionen und zwar national wie international. Diese Auseinandersetzungen nehmen nicht nur zu, sie gewinnen auch an Schärfe. Bei SCRIPTS beobachten wir eine Radikalisierung sowohl, was die Entwicklung extremer politischer, sozialer oder religiöser Einstellungen und Überzeugungen angeht, als auch der Bereitschaft, illegitime Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele einzusetzen, bis hin zur Anwendung von Gewalt. Geht diese Radikalisierung von Bürgerinnen und Bürgern mit einer gesellschaftlichen Polarisierung einher, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Auseinandersetzungen um liberale Institutionen gegen die liberale Demokratie an sich wenden und illiberalen Kräften ermöglichen, einen weiteren Demokratieabbau zu rechtfertigen. Solche Tendenzen lassen sich beispielsweise in den Vereinigten Staaten beobachten, in denen Donald Trump nach der verlorenen Wahl 2020 seine Anhänger zum Sturm auf das Kapitol anstachelte und für den Fall seiner Wiederwahl unverhohlen ankündigt, die USA für einen Tag in eine Diktatur zu verwandeln.
Resilienz wird als Fähigkeit eines politischen Systems verstanden, auf Krisen zu reagieren, ohne seine Grundprinzipien aufzugeben.
Tanja A. Börzel
Aber warum sind einige liberale Demokratien widerstandsfähiger gegen sich radikalisierende Auseinandersetzungen um ihre Werte und Institutionen als andere? In Japan, Spanien oder Deutschland sind illiberale Parteien bisher nicht stark genug, um auf nationaler Ebene eine Regierung zu bilden oder daran beteiligt zu werden. Demokratische Resilienz, die Widerstandsfähigkeit von Demokratien gegen illiberale Anfechtungen, rückt immer mehr in den Mittelpunkt der Forschung von SCRIPTS. Dabei wird Resilienz als Fähigkeit eines politischen Systems verstanden, auf Krisen und andere Herausforderungen zu reagieren, ohne seine Grundprinzipien aufzugeben.

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Die Forschung hat verschiedene Quellen demokratischer Resilienz identifiziert, zu denen wirtschaftlicher Wohlstand, das Alter einer Demokratie sowie soziales und politisches Vertrauen gehören. Keiner dieser Faktoren ist für sich in der Lage, die weltweiten Unterschiede zu erklären. Besonders ambivalent scheint die Rolle von institutionellen Leitplanken für politische Auseinandersetzungen. Gerade in Deutschland wird Widerstandsfähigkeit mit Wehrhaftigkeit gleichgesetzt. Die liberale Demokratie muss sich gegen ihre Feinde verteidigen dürfen, indem für sie grundlegende Institutionen dem Zugriff demokratischer Mehrheiten entzogen und demokratiefeindliche Parteien oder Vereine verboten werden. Während bei uns der Staat als Garant der liberalen Demokratie gilt, wird ihm in Ländern libertärer Prägung wie den USA ein grundsätzliches Misstrauen entgegengebracht. Maßnahmen wie etwa die Beschneidung der Versammlungsfreiheit, die in Deutschland dem Schutz gegen antidemokratische Kräfte dienen soll, gelten in den USA eher als Bedrohung von Freiheit und Demokratie.

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Liberale Demokratien reagieren also durchaus unterschiedlich auf illiberale Auseinandersetzungen. Aus der Normenforschung wissen wir, dass transparente, deliberative und inklusive Formate der politischen Kommunikation, zum Beispiel öffentliche Anhörungen, Bürgerräte oder Town Hall Meetings, eher zur demokratischen Einhegung radikaler Auseinandersetzungen beitragen als repressive Maßnahmen wie Verbote, Kriminalisierung oder Delegitimierung politischer Proteste. Zukünftige Studien müssen jedoch erst noch zeigen, wie wehrhaft liberale Demokratien sein müssen, um illiberalen Anfechtungen zu widerstehen, ohne grundlegende liberale Prinzipien zu verletzen.
Herausforderungen liberaler Gesellschaftsentwürfe werden erforscht
Das Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS)” der Freien Universität Berlin erforscht die Herausforderungen liberaler Gesellschaftsentwürfe. Das interdisziplinäre Cluster vereint Perspektiven und Methoden aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und untersucht das liberale „Skript“ zur Organisation von Gesellschaften aus globaler ebenso wie aus historischer Perspektive. Das Cluster wird im Zuge der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder noch bis Ende 2025 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. In ihm arbeiten acht große Berliner Forschungseinrichtungen zusammen: die Freie Universität Berlin, die Humboldt-Universität zu Berlin, das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), die Hertie School, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), die Berliner Außenstelle des German Institute of Global and Area Studies (GIGA) sowie das Zentrum für Osteuropäische und Internationale Studien. SCRIPTS kooperiert auch in einem weltweiten Partnernetzwerk mit über 20 internationalen Partnern.
Mehr Informationen unter scripts-berlin.eu