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© Markus Winkler

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CNSS - Der Ernstfall beginnt im Alltag: Deutschlands Suche nach dem strategischen Kompass

Konflikte und Krisen beginnen heute selten mit einer Kriegserklärung. Sie schleichen sich in den Alltag durch Angriffe auf digitale Netze, gezielte Manipulationen in Informationsräumen und durch Störungen globaler Lieferketten.

Stand:

Die geopolitischen Veränderungen der letzten Jahre haben Europa erschüttert, aber haben sie auch Deutschland erreicht? Debatten über Wehrpflicht, NATO-Aufrüstung und die „Zeitenwende“ markieren das Ende einer jahrzehntelangen Politik der Zurückhaltung.

Als direkte Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine beschloss die damalige Bundesregierung ein einmaliges Investitionspaket in Höhe von 100 Milliarden Euro. Verankert im Grundgesetz, soll dieses Sondervermögen die Bundeswehr umfassend modernisieren und zugleich das Fünf-Prozent-Ziel der NATO absichern.

2023 folgt die erste Nationale Sicherheitsstrategie. Sie definiert Wehrhaftigkeit, Resilienz und Nachhaltigkeit als gleichwertige Pfeiler der inneren Sicherheit. Die Umsetzung dieser Ziele wird ausdrücklich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe festgeschrieben.

© Schutz der Infrastruktur

Ende August 2025 bekommt Deutschland einen Nationalen Sicherheitsrat unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers. Die zentrale Steuerungsstelle soll sicherheitsrelevante Informationen sammeln, ressortübergreifend schnellere Entscheidungen treffen und damit Krisen wirksamer bewältigen.

Gleichzeitig beschließt die Regierung die Modernisierung des Wehrdienstes. Ab 2027 wird die Musterung für Männer wieder verpflichtend, der Dienst bleibt freiwillig, kann aber in eine Pflicht überführt werden.

Damit rückt eine Frage ins Zentrum: Wie lässt sich mit neuen Konzepten und Milliardeninvestitionen eine tragfähige Sicherheitskultur entwickeln?

CNSS – Impulsgeber für strategisches Denken

Genau hier setzt das Clausewitz Netzwerk für strategische Studien (CNSS) an. 2010 an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg gegründet, liegt sein Wirkungskreis heute vor allem in Berlin, ein Büro in Brüssel ist in Planung. Das CNSS bündelt militärische, zivile und wissenschaftliche Expertise, um Fragen von Politik, Krieg und Strategie neu zu denken. Das Netzwerk entwickelt Formate für Krisenübungen, stößt Debatten an und fördert Szenarien, die über Ressortgrenzen hinausgehen. Im Mittelpunkt steht ein inklusiver Strategieansatz: Nationale Sicherheit wird als gemeinschaftliche Aufgabe verstanden, bei der Politik, Streitkräfte und Öffentlichkeit im offenen Dialog stehen. 

Resilienz – Stärke durch Kommunikation

Damit strategisches Denken wirksam und praktikabel wird, braucht es Resilienz. Sie ist heute ein Schlüsselbegriff der Sicherheitspolitik. Resilienz entsteht dort, wo Kommunikation nicht beschwichtigt, sondern erklärt und wo Institutionen Vertrauen nicht nur einfordern, sondern verdienen.

© Resilienz

Für Demokratien ist das eine heikle Balance: Offene Kommunikation kann Ängste wecken, Verschweigen untergräbt die Glaubwürdigkeit in politische Institutionen. Entscheidend ist eine klare Benennung der realistischen Bedrohungen, welche Verteidigungsstrategien existieren und wo die Grenzen staatlicher Möglichkeiten liegen.

© Samuel Hagger

Doch Resilienz erschöpft sich nicht in Sprache. Sie fordert gesamtgesellschaftliche Verteidigung, wie sie in der Nationalen Sicherheitsstrategie festgeschrieben wurde. Das bedeutet den Schutz kritischer Infrastruktur, stabile Versorgungsketten, robuste Cybersicherheit und die Einbindung von Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Die aktuellen Bedrohungslagen zeigen, wie breit Resilienz gedacht werden muss. Russland führt einen hybriden Krieg, der längst in unseren Alltag hineinwirkt: über Cyberattacken, Propaganda und gezielte Verunsicherung. China nutzt wirtschaftliche Abhängigkeiten als Druckmittel. In der NATO wächst die Unsicherheit, wie belastbar das Bündnis bleibt, wenn sich die amerikanische Politik unter einem Präsidenten Trump weiter verändert. Und in Europa selbst steht die Frage im Raum, wie eine polnische Mobilisierung an der Ostflanke die Lage verändern würde. Resilienz bedeutet, auf all das vorbereitet zu sein. Nur wenn staatliche Stellen, Streitkräfte, Wirtschaft, Medien und die Zivilgesellschaft gemeinsam Verantwortung übernehmen, entsteht eine Verteidigungsfähigkeit, die über das Militärische hinausgeht und im Ernstfall bestehen kann.

Wertekompass – neue Definition notwendig

Resilienz bedingt auch die Frage nach der Identität. Wofür steht eine Gesellschaft und wofür ist sie bereit, einzutreten? In Deutschland wird diese Debatte im Schatten der eigenen Geschichte geführt. Während viele europäische Nachbarn ihre Streitkräfte als selbstverständlichen Teil des Gemeinwesens begreifen, begegnet ihnen die deutsche Öffentlichkeit mit Skepsis und Distanz. Die historische Verantwortung ist unbestritten, hat aber dazu geführt, dass Fragen nach Verteidigungsbereitschaft, Anerkennung und der Rolle des Militärs selten offen beantwortet werden.

Gerade deshalb braucht es eine neue Sprache. „Wir brauchen keine martialischen Heldensagen, sondern ehrliche Geschichten“, sagt Hille Norden, Regisseurin und Dokumentarfilmerin, die eng mit dem CNSS zusammenarbeitet. Für sie steht fest: Wenn das Militär wieder in der Mitte der Gesellschaft ankommen soll, braucht es Bilder, die berühren, nicht belehren. „Ein Soldat ist kein Superheld. Aber er oder sie ist jemand, der Verantwortung übernimmt für uns alle.“ Die Suche nach dieser Sprache ist kein Selbstzweck. In Zeiten hybrider Bedrohungen und wachsender Desinformation wird Vertrauen zur sicherheitspolitischen Ressource.

© verschiedene Szenarien

„Was gibst du mir, damit ich für dich kämpfe?“ Diese Frage stellt sich Jan Georg Schütte, Schauspieler und Regisseur, im Rahmen einer CNSS-Veranstaltung zur zivil-militärischen Kommunikation. Für ihn ist klar: „Die Bundeswehr muss wieder erklären dürfen, wofür sie steht und wofür sie kämpft. Es geht um mehr als Technik und Taktik, es geht um Haltung, um Sinn und um Anerkennung.“

Tatsächlich ist die Frage nach gesellschaftlicher Wertschätzung zentral. Während viele Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst mit Überzeugung leisten, fehlt es häufig an öffentlicher Rückendeckung. Gesellschaftliche Wertschätzung bedeutet nicht nur Auszeichnungen oder Gelöbnisse, sondern auch verlässliche Betreuung der Familien, transparente Übergänge in den zivilen Arbeitsmarkt und die Anerkennung militärischer Qualifikationen.

Begriffe wie „Kameradschaft“ oder „Pflichtbewusstsein“ sind historisch belastet, lassen sich aber in einem demokratischen Kontext neu deuten, nicht mehr als Ausdruck von Gehorsam, sondern von Solidarität, Rechtsbindung und Verantwortungsbereitschaft. „Die Bundeswehr braucht keine neue Verpackung, sondern neue Geschichten“, so Norden. Geschichten, die ehrlich zeigen, was es heißt, im Ernstfall für andere einzustehen und die zugleich eine offene, demokratische Haltung transportieren.

Ein solcher Wertekompass stärkt nicht nur die Streitkräfte, sondern auch die Gesellschaft. Er verdeutlicht, dass Verteidigung kein Selbstzweck ist, sondern dem Schutz einer Lebensweise dient, die auf Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und internationaler Kooperation basiert.

Gesucht - Strategische Kompetenz

Die klassischen Bedrohungen für unsere Demokratien werden heute zunehmend von geopolitischen Herausforderungen überlagert. Ressourcenkonkurrenz, Klimawandel, Pandemien, Migrationsbewegungen, demografischer Wandel, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz standen bislang nicht auf der militärischen Agenda. Und doch prägen diese Faktoren heute unsere globalen Krisen. Strategische Kompetenz bedeutet in diesem Kontext mehr als finanzielle oder militärische Ressourcen. Sie entsteht heute dort, wo militärische Fähigkeiten, politische Entscheidungsprozesse und gesellschaftliche Vorsorge zusammengedacht werden.

Deutschland muss lernen, sicherheitspolitisch wieder langfristig zu planen und eine dauerhaft höhere Verteidigungsbereitschaft aufzubauen. Das CNSS betont, dass ein neuer strategischer Kompass nicht über Nacht entsteht. Er wächst, wenn Verwaltung, Streitkräfte, Wirtschaft, Wissenschaft und Bürgerinnen und Bürger zusammenkommen, Annahmen testen, Fehler dokumentieren und Verfahren verbessern. Sicherheit wird so zur alltäglichen Fähigkeit, getragen von Vertrauen, gestützt durch Strukturen und verankert in einem gemeinsamen Werteverständnis.

Combat IT engineer supervising and assisting team members in the field via radar surveillance system, guiding his troops in fighting and defensive positions. Sergeant gathers intelligence. Close up.

© Cyber-Sicherheit

Am Ende entscheidet weniger, wie wir unsere Geschichte erzählen, sondern wie wir unsere Zukunft gestalten: durch Verfahren, die funktionieren, durch Institutionen, die Vertrauen schaffen und durch eine Gesellschaft, die bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.

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