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Engagement: „Nicht die reichsten, sondern die hilfreichsten Menschen werden von der Geschichte erinnert“
Der Historiker Rutger Bregman gilt spätestens seit seinem Bestseller „Im Grunde Gut“ als einer der Vordenker Europas. Mit seinem neuen Buch „Moralische Ambition“ wird er zum radikalen Weltverbesserer – und nimmt seine Leserschaft in die Pflicht
Stand:
Moralische Ambition – was ist das überhaupt, Herr Bregman?
Moralische Ambition sind nur zwei Worte für ein Phänomen, das es seit Menschengedenken gibt. Es gab schon immer einzelne Figuren, die sich um das Wohl der ganzen Welt bemüht haben. Mein Buch greift dieses Engagement wieder auf.
Woher kam die Idee, ein Buch darüber zu schreiben?
Ich habe die letzten zehn Jahre in einer Branche gearbeitet, die ich „Awareness Business“ nennen würde. Leute wie ich haben beurteilt oder verurteilt, was andere Menschen in der Welt zustande bringen. Wir haben alle möglichen Ideen ins Spiel gebracht, wie man die Welt verbessern kann, und haben gehofft, dass andere sie in die Tat umsetzen: das Klima retten, das Artensterben beenden, den Hunger auf der Welt und auch die Steuerflucht der Superreichen. Aber das ist nicht genug.
Verstecken wir uns gerade alle hinter dieser „Awareness“, dem Durchschauen der maroden Weltlage, statt etwas dagegen zu tun?
Genau, wir machen es uns dahinter bequem. Wie viele Abende habe ich mit Freunden in Amsterdam über soziale Ungerechtigkeit diskutiert, über Gaza, was auch immer. Und am Ende sagt dann immer jemand: „Gut, dass wir drüber gesprochen haben.“ Ist das so? Macht Reden einen Unterschied?
Haben Ihre bisherigen Bestseller nicht genug Menschen aufgerüttelt?
Mein Buch „Im Grunde Gut“ war eine warme Umarmung. Es sollte unseren Glauben an die Menschheit wiederherstellen. Aber manchmal macht eine Umarmung auch selbstgefällig. Sie gibt uns das Gefühl, dass schon alles gut wird. Menschen wie ich brauchen eher eine kalte Dusche als eine warme Umarmung, um sie aufzuwecken.
Ihr Buch stellt eine ganze Liste historischer Helden und Heldinnen vor, die es nicht beim Reden belassen, sondern mit ihrem Engagement die Welt verändert haben.
Ich habe die Bürgerbewegungen der letzten beiden Jahrhunderte studiert, von der Abschaffung des Sklavenhandels über die Suffragetten bis zur Menschenrechtsbewegung in den USA. Dabei wurde ich regelrecht neidisch auf diese Leute, die in der Arena standen und wichtige Arbeit leisteten, statt im Hintergrund zu klagen und zu meckern. Das war der Antrieb dafür, meinen Ruf und mein Geld für etwas einzusetzen, das tatsächlich einen Unterschied machen kann.
Sie planen Größeres?
Das Buch ist nur der erste Schritt, der Türöffner, um unsere Idee bekannt zu machen. Ich habe in den Niederlanden gemeinsam mit einigen Mitstreiter*innen eine „Schule der moralischen Ambition“ gegründet, die eine globale Bewegung des Engagements werden soll. Wir haben gerade die Arbeit in Berlin aufgenommen und ich lebe zurzeit mit meiner Familie in New York, um auch hier die Strukturen dafür zu schaffen.
Können Bürgerbewegungen denn heute noch so viel bewirken wie damals?
Die aktuelle Gegenwart ist vielleicht entmutigend. Aber in der Geschichte gilt immer das Gesetz von Aktion und Reaktion. Als Trump zum ersten Mal gewählt wurde, entstanden die großen Bewegungen des letzten Jahrzehnts: „Me too“, „Black Lives Matter“, das Wiedererstarken der Frauenrechts-Bewegung. Jetzt ist es wahrscheinlich, dass sich wieder große Bewegungen entwickeln. Und sehr notwendig. Die Welt steht vor großen Herausforderungen.
Einige wichtige Bewegungen sind wieder abgeflaut.
Es gibt ein Gefühl unter engagierten Idealisten, immer alles absolut richtig machen zu wollen und jeden dabei mitzunehmen. Eine Art Purismus. Wenn Klima-Aktivisten sich auch noch um Gaza und Trans- und Tierrechte kümmern, geht der Fokus verloren. Dazu kam Corona. Trotzdem haben diese Bewegungen immer noch großen Einfluss auf die Politik und einzelne Unternehmen. Wir müssen aber lernen, Koalitionen zu bilden, statt uns zu viel aufzubürden und dann selbst zu zerlegen.
Sie fordern mehr als nur den Besuch einer Sonntagsdemo. Sie fordern nichts weniger als Karrierewechsel.
Augenblicklich stecken viele sehr fähige Menschen in Jobs, die nichts zur Lösung unserer globalen Probleme beitragen. Business Consultants, Marketing-Fachleute, Technik-Überflieger, die Apps entwickeln für Dinge, die niemand wirklich braucht. Aus meiner Sicht haben diese talentierten Menschen ihre Karriereleiter an die falsche Wand gelehnt. Denn wir alle müssen anfangen, unsere gesellschaftlichen Verpflichtungen ernst zu nehmen. Vor allem, wenn wir zu den Privilegierten der Welt gehören.
Ist das eine realistische Perspektive?
Ich will nicht Menschen in systemrelevanten Jobs einen Tritt geben – Lehrkräften oder Pflegekräften, deren Schultern uns alle tragen. Ich will Leuten einen Tritt geben, denen es besser geht als dem Durchschnitt – und ich will vor allem mir selbst einen Tritt geben. Wir gut ausgebildeten Professionals verschwenden unser Talent. Dieser Mangel an Einsatz, um die Welt zu retten, ist für mich ein Verrat an der Menschheit. Aber natürlich ist jeder und jede in unserer Bewegung willkommen. Lech Walesa war Elektriker, Rosa Parks war Näherin – und was haben sie erreicht!
Hilft es Ihren Anliegen, dass Engagement für andere auch die eigene Zufriedenheit stärkt?
Wenn wir ambitionierte Idealisten sind, macht dies nicht nur unser Leben erfüllter, es setzt uns auch ein Denkmal. Nicht die reichsten, sondern die hilfreichsten Menschen werden in der Geschichte erinnert. Aber selbst, wenn nicht: Sehen Sie sich die großen Menschen der Vergangenheit an, etwa Martin Luther King – wie viel Zeit seines Lebens war er glücklich? Wahrscheinlich nicht übermäßig viel. Ich glaube, er war oft gestresst, er hatte oft Angst. Heute haben Menschen einen Burnout in Jobs, die nicht nur ihnen selbst nichts bedeuten, sondern auch für die Welt keinen Unterschied machen. Das ist eine Tragödie unserer Zeit.
Es geht Ihnen aber nicht nur um Tragödien, sondern auch um Visionen, um Lebensfreude.
Martin Luther King hat gesagt: „Ich habe einen Traum”, nicht „Ich habe einen Albtraum“. Es ist momentan sehr einfach, pessimistisch und lethargisch zu sein. Aber als Historiker weiß ich, dass geschichtliche Entwicklungen in jede Richtung flexibler sind, als wir annehmen. Das macht mir große Hoffnung. Die Menschen meinen, sie hätten keinen Einfluss. Diejenigen, die ihn wahrnehmen, haben umso mehr davon. Und wenn wir unsere aktuelle Situation mit ein bisschen historischem Abstand betrachten, stellen wir fest: Dies ist bei weitem nicht die schwierigste Epoche der Menschheit. Ich würde meine Haltung nicht optimistisch nennen, sondern eine Haltung der unendlichen Möglichkeiten.
In Ihrem Buch erzählen Sie vom niederländischen Widerstand gegen die Nazis. Die meisten machten mit, einfach weil sie gefragt wurden. Ist das auch Ihre Erfolgsformel?
Genau. Mein Buch ist eine solche Frage, eine Einladung und Anleitung. Sein Leitsatz kommt von der amerikanischen Anthropologin Margaret Mead: Es ist immer eine kleine Gruppe engagierter Bürger und Bürgerinnen, die unsere Welt verändert. Das ist im Grunde die Zusammenfassung des ganzen Buchs.
Was bedeutet das konkret für Interessierte?
Ich kann nicht der Karriere-Coach für alle Menschen sein, die jetzt ihrer moralischen Ambition folgen wollen. Da kommt es natürlich auf ihr Berufsfeld an, auf ihren Wohnort und ihre besonderen Fähigkeiten. Ich habe aber einen generellen Rat: Suche dir Menschen, die auch so denken wie du. Dafür haben wir die „Schule für Moralische Ambition“ gegründet. Ein Ort, wo Leute miteinander sprechen, die soziale Ungleichheit bekämpfen oder die nächste Pandemie verhindern wollen, die sich nicht gegenseitig niedermachen, sondern motivieren.
Erklären Sie uns Ihre Schule genauer.
Jeder Mensch ist willkommen und kann Mitglied werden. Weltweit haben wir bereits über 3.000 Mitglieder, davon eine ganze Anzahl in Deutschland. Hunderte haben sich in sogenannten Zirkeln organisiert. Dort lernen sie, wo ihre Talente liegen, was die wichtigsten, bisher vernachlässigten Probleme der Welt sind und wie sie diese beiden Dinge miteinander verbinden können. Sie lernen, wie sie erste Schritte machen, gesellschaftliche Probleme zu lösen und wie sie Verantwortung übernehmen.
Das klingt nicht unbedingt nach einem nötigen Karrierewechsel.
Eine ganze Anzahl von Leuten sind außerdem dabei, ihre Jobs zu kündigen, um in einem anderen Berufsfeld zu arbeiten. Unser Fellowship-Programm sammelt die talentiertesten, ambitioniertesten Menschen aus der ganzen Welt zusammen. Wir verstehen uns ein bisschen als Robin-Hood Programm: Wir nehmen den Reichen kein Geld ab, aber wir ziehen ihnen die besten Mitarbeiter ab, um sie da einzusetzen, wo die Welt sie am meisten braucht.
Wie groß ist das Interesse?
Von über 650 Bewerbungen aus 19 Ländern haben wir im ersten Jahrgang 22 Kandidaten ausgesucht, die sich den Problemen der Welt widmen werden. Das ist keine Frage von persönlicher Leidenschaft. Das läuft ab wie in „Der Herr der Ringe“, wo Gandalf an Frodos Tür klopft und sagt: „Das ist deine Mission. Sie muss erfüllt werden“ Wir haben ein Team von Researchern, das diese dringenden Probleme aufspürt, die wir oft nicht auf dem Radar haben, die aber lösbar sind. Eine Aufgabe ist beispielsweise, die Machenschaften der Tabakindustrie bloßzulegen und zu bekämpfen. Eine andere, die Herstellung von nachhaltigen Proteinen voranzubringen, um die Ernährung der Weltbevölkerung zu sichern, außerdem Klimakrise und Tierleid zu beenden. Das ist natürlich kein Job für ein Jahr, das ist eine Herausforderung für ein ganzes Leben, die von Wirtschaft und Politik gemeinsam angegangen werden muss.
Bisher haben moralische Ambitionen dort selten Priorität.
Auch deshalb wollen wir guten Taten ein besseres Prestige verpassen. Wir wollen eine Art Champions League des Engagements schaffen. Sich an der „Schule für moralische Ambition“ einzuschreiben, soll genauso angesehen sein wie ein Studium in Harvard oder Oxford. Wir wollen ein Magnet für talentierte Menschen werden, die Glück haben, von uns genommen zu werden, weil das für den Rest ihres Lebens auch ihren beruflichen Erfolg bestimmen wird. Unsere ersten 22 Fellows haben ihre alten Jobs aufgegeben und zum Teil einen Einkommensverlust von 60 Prozent hingenommen, um die Welt zu verändern. Noch einmal: Das sollten vor allem die Gutverdiener unter uns tun. Genau die sprechen wir mit dem Fellowship-Programm an. Nicht die Busfahrer und Krankenschwestern, die sich ohnehin viel für die Gesellschaft engagieren.
Wo wollen Sie in 20 Jahren mit Ihrer Bewegung sein?
In 20 Jahren haben hoffentlich Millionen von Menschen die Ärmel im Einsatz für eine bessere Welt hochgekrempelt. Wir sind dabei, eine globale Bewegung zu schaffen, die gerade in Tausender-Sprüngen wächst. Amsterdam, Berlin, New York, demnächst Mumbai – der Anfang ist gemacht.
moralischeambition.de
Dieses Buch ist eine Zeitgeschichte von Idealisten, ein Selbsthilfebuch für Pessimisten und eine Gebrauchsanleitung zu einem besseren Leben – für alle.

© Rowohlt
Rowohlt, 332 Seiten, 26 Euro.