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Auf  der Website lastseen.org werden Fotos aus Archiven und Privatsammlungen zusammengetragen.

© Projekt #LastSeen / & Why

Am helllichten Tag: Wie Geschichten von NS-Opfern digital nacherzählt werden

Millionen Menschen wurden von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet – und Schaulustige sahen zu. Das Projekt #LastSeen sammelt jetzt Fotos von Transporten in einem digitalen Bildatlas.

Von Dennis Yücel

Die ungeheure Gewalt, die aus den Aufnahmen spricht, das Leid, von dem sie zeugen, ist auf den ersten Blick manchmal kaum zu erkennen: Gruppen von Menschen, oft vor allem ältere Damen, laufen Straßen entlang oder verstauen ihr Gepäck in Waggons dritter Klasse. Sie werden von Zuschauenden aus einiger Distanz beobachtet.

Die Polizisten, die die Gruppen begleiten, halten sich meist unauffällig am Rand. Es sind relativ ruhige Szenen. „Man sieht hier keine schlagenden oder brüllenden SS-Offiziere, keine bellenden Hunde“, sagt Alina Bothe. „Doch es handelt sich um Deportationen aus deutschen Städten in Konzentrations- und Vernichtungslager. Die letzten Augenblicke, ehe diese Menschen aus der Gesellschaft gerissen und ermordet wurden.“

Alina Bothe ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Seit Oktober 2021 leitet sie das Projekt #LastSeen, das sie mit­initiiert hat. Gemeinsam mit dem Historiker Christoph Kreutzmüller, stellvertretender Leiter des Projekts an der Freien Universität, und den Partnerinstitutionen hat sie aus Hunderten Archiven und Privatsammlungen Fotografien von nationalsozialistischen Deportationen in Deutschland gesammelt.

Aufnahmen aus über 60 Orten wurden bisher gesammelt

Bislang konnten Aufnahmen aus über 60 Ortschaften des ehemaligen Reichsgebiets gesichert werden. Der Bestand an bekannten Fotos konnte so in nur 18 Monaten ungefähr verdoppelt werden. Entstanden ist ein digitaler Bildatlas, in dem die Aufnahmen wissenschaftlich erschlossen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Nun läuft die zweite Projektphase an, gefördert von der Alfred Landecker Foundation. „Die Fotos sind eine enorm wichtige historische Quelle“, sagt Christoph Kreutzmüller. „Sie zeigen, dass die Deportationen in Deutschland am helllichten Tag und in aller Öffentlichkeit vorgenommen wurden.“ Im Dezember 1941 beschloss die nationalsozialistische Führung den zynisch als „Endlösung“ bezeichneten systematischen Massenmord an den europäischen Juden.

Jedes Bild kann ein Stück weit zur Aufklärung und Dokumentation der Verbrechen beitragen.

Alina Bothe, Leiterin und Mitinitiatorin des Projekts #LastSeen

Aus ganz Europa wurden Menschen daraufhin mit Zügen in das von den Deutschen besetzte Polen, das Baltikum oder nach Weißrussland deportiert, wo sie erschossen oder in Vernichtungslagern ermordet wurden – sie stammten aus Frankreich, der Ukrai­ne, Griechenland und vielen weiteren Staaten. Aus dem Deutschen Reichsgebiet wurden etwa 200.000 Jüdinnen und Juden verschleppt und umgebracht. Auch Sinti und Roma sowie Menschen mit geistigen oder körperlichen Einschränkungen wurden auf diese Weise systematisch ermordet. „In Deutschland wurden von Herbst 1941 an die Menschen deportiert, denen die Flucht nicht gelungen war“, sagt Alina Bothe. „Es waren vor allem Menschen, die alt oder krank waren oder nicht über die nötigen Kontakte und finanziellen Mittel verfügten, um zu emigrieren.“

Die trügerische Alltäglichkeit vieler Fotos dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass alle Beteiligten wussten, welche furchtbaren Verbrechen sich auf den Straßen abspielten. „Die Nationalsozialisten sind in Deutschland behutsamer vorgegangen als in den besetzen Gebieten“, sagt Christoph Kreutzmüller. „Es gab Personenzüge statt Güterwaggons. Aber allen Beteiligten war klar, dass diese Transporte ohne Wiederkehr waren – den Opfern ebenso wie den Polizisten, Lokführern und Schaulustigen.“

Offiziell wurden die Deportationen als „Umsiedlungen“ bezeichnet. „Doch selbst, wenn die Menschen nicht so genau wissen wollten, was mit ihren Nachbarn geschieht, wussten sie, dass diese nicht wiederkommen würden und ihr Hab und Gut kurz nach der Abreise für Ramschpreise verkauft wurde.“

Viele Fotos entstanden aus Täterperspektive

Die ersten Transporte, etwa aus München im November 1941, fanden nachts statt. Doch bald sei die Einsicht gewachsen, dass derartige Bemühungen gar nicht notwendig waren: „Niemand störte sich daran, dass die Menschen versammelt und abtransportiert wurden“, sagt Alina Bothe. „Also hat man es tagsüber gemacht, teilweise mit regulär fahrenden Straßenbahnen.“

Die meisten der Fotos, die im Projekt #LastSeen versammelt werden, sind von Polizisten oder täternahen Personen aufgenommen. Doch es sind auch Privatleute, die den Abtransport ihrer Nachbarinnen und Nachbarn knipsten. „Insbesondere in kleinen Städten muss man davon ausgehen, dass die Fotografen die Menschen in den Deportationszügen persönlich kannten“, sagt Christoph Kreutzmüller. Man müsse sorgsam abwägen, auf welche Art und Weise man diese Fotos ausstelle, sagt Alina Bothe.

Die Menschen sind gegen ihren Willen fotografiert worden. Zudem handelt es sich um Aufnahmen aus der Täterper­spektive. „Sie geben also Tätersicht wieder, sie inszenieren die Deportationen als erfolgreiche Polizeiaktion oder Spektakel.“ Indem man die Fotos wissenschaftlich erschließe und die Biografien der Abgebildeten recherchiere, könne man ein Gegengewicht schaffen. „Es ist uns wichtig zu wissen, wer die Menschen auf den Bildern sind“, sagt Alina Bothe, „und zumindest ein wenig ihrer Geschichte erzählen zu können.“

Mehr als 200 Biografien hat das Team um Bothe und Kreutzmüller recherchiert. Sie lassen sich im digitalen Bildatlas nachlesen, gemeinsam mit Informationen über den Kontext der Deportationen. Einzelne Orte lassen sich über eine Karte oder ein Suchfenster gezielt recherchieren. Außerdem gibt es auf der Webseite ein historisches Suchspiel, das insbesondere in Schulklassen zum Einsatz kommt. Kinder und Jugendliche nehmen die Rolle von Bloggern ein und recherchieren auf einem virtuellen Dachboden zu den Geschichten in und hinter den Fotos einer Deportation aus Eisenach am 9. Mai 1942.

Noch gibt es keine Fotos aus Berlin

Das Projekt #LastSeen leistet einen Beitrag zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit; diese Forschung hat an der Freien Universität eine lange Tradition, etwa mit dem digitalen Zwangsarbeit-Archiv und dem Archiv „Refugee Voices“ an der Universitätsbibliothek. Studierende, Lehrende, Forschende und Interessierte haben über die Freie Universität zudem einen Zugang zum „Visual History Archive“ der USC Shoah Foundation.

Im Rahmen eines Forschungsprojekts wird zudem die „Geschichte der Ihnestraße 22“ erforscht: Wo heute Teile des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft untergebracht sind, befand sich – vor der Gründung der Universität – von 1927 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Die dort arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren mit ihrer sogenannten Rassenforschung an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt.

Alina Bothe und Christoph Kreutzmüller sind für das Projekt #LastSeen beständig auf der Suche nach weiteren Aufnahmen. „Uns liegen insbesondere für Berlin und andere größere Städte noch keine Fotos vor“, sagt Christoph Kreutzmüller. „Hier sind leider viele Beweise der Deportationen vernichtet worden.“ Wer etwas über Deportationen in der näheren und weiteren Umgebung von Berlin erfahren möchte, findet etwa Aufnahmen aus Brandenburg an der Havel und Halberstadt am Harz. Die Menschen wurden dort in Zügen deportiert, die auf dem Weg nach Osten ganz Berlin durchquerten.

In der gegenwärtig laufenden zweiten Projektphase werden Fotos auch aus Österreich und dem Sudetengebiet in den Atlas aufgenommen. Alina Bothe appelliert an die Öffentlichkeit: „Ich bin mir sicher, dass in ganz Europa auf Dachböden und in Archiven noch zahlreiche Aufnahmen lagern. „Jedes Bild kann ein Stück weit zur Aufklärung und Dokumentation der Verbrechen durch die Nationalsozialisten beitragen.“

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