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Wem hat das Buch einst gehört? Mit dieser Frage beginnt die Ermittlungsarbeit.

© Bernd Wannenmacher

NS-Verbrechen auf der Spur: Warum die Eigentümer-Suche noch immer wichtig ist

Seit 2013 wird an der Arbeitsstelle Provenienzforschung die Geschichte der Bücher der Freien Universität erforscht und geprüft, ob sich in den Beständen Raubgut befindet.

Von Pepe Egger

Man kann sich die Arbeit der Arbeitsstelle Provenienzforschung ein bisschen wie die einer Detektei vorstellen: einer bibliothekarischen Ermittlungsagentur, die mit fast kriminalistischem Spürsinn zu ergründen versucht, wem ein Buch einst gehört haben kann. Wem es geraubt wurde. Und ob man es heute restituieren, also an die Erben seiner einstigen Besitzer zurückgeben kann.

Die Besonderheit dieser Art von Spürarbeit ist nicht nur, dass die Spurensicherung sich fast ausschließlich in Büchern und Archiven abspielt. Sondern auch, dass sich die Arbeit nahezu unermesslich ausnimmt: Mehr als sieben Millionen Bücher besitzt die Freie Universität, davon sind eine Million allein wegen ihres Erscheinungsdatums potenziell „verdächtig“. Von dieser Million hat die Arbeitsstelle in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens rund 100.000 durchforstet.

Ringo Narewski, der Leiter der Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek, hat diese seit ihrer Gründung vor zehn Jahren mitaufgebaut. Er beschreibt die Vorgangsweise seines Teams so: „Wir beginnen ganz simpel damit, dass wir uns ein Buch aus dem Regal nehmen und es in Augenschein nehmen: Gibt es darin irgendwelche Hinweise auf seine Geschichte? Auf einen Vorbesitzer oder eine Vorbesitzerin? Das kann ein Ex­libris sein, ein Name, eine Notiz, eine Markierung, irgendetwas – selbst wenn es nur ein Bleistiftstrich ist, fangen wir an zu recherchieren.“

Wobei man sagen muss: Dann beginnt der schwierigere Teil der Aufgabe. Oder der interessantere, wie man es nimmt. Elena Brasiler, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsstelle Provenienzforschung, beschreibt den Nachforschungsprozess eines Buches exemplarisch: „Unsere Suche begann in diesem Fall nach dem Fund eines besonders schönen Ex­libris in einem Buch aus der Bibliothek.“ Der Autor des Buchs ist Jonas Wiesner, es datiert aus dem Jahr 1864 und trägt den Titel „Der Bann in seiner geschichtlichen Entwickelung auf dem Boden des Judenthumes“. Auf dem Exlibris ist eine Menora zu sehen, auf einem Hügel mit Häusern, darunter steht der Name Michal Lampusiak und ein Hinweis, dass das Exlibris in Rotterdam hergestellt wurde.

Seit 2010 forscht die Freie Universität auf den Spuren der Bücher

„Unsere Nachforschungen in holländischen Zeitungsarchiven ergaben“, erzählt Elena Brasiler, „dass Michal Lampusiak ursprünglich aus Ozorków stammte, das ist ein Ort nördlich von Łódz in Polen. Er war eigentlich Schneider, aber mit einer großen Leidenschaft für Bücher. Nach Ausbruch des polnisch-sowjetischen Krieges 1919 wollte er nach Amerika auswandern, entschied sich aber für Rotterdam, wo er blieb, heiratete und sich niederließ. Dort arbeitete er als Schneider, er fing zugleich an, antiquarische Bücher zu sammeln. Als die Nationalsozialisten 1940 die Niederlande besetzten, musste seine Familie ihn verstecken, was ihn rettete. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfüllte er sich dann seinen Lebenstraum, ein Antiquariat zu eröffnen. Es gelang uns, die drei Töchter von Michal Lampusiak zu ermitteln – und einen Enkel, den haben wir versucht, zu kontaktieren, aber bisher leider ohne Erfolg.“

Die Provenienzforschung, wie sie an der Freien Universität betrieben wird, hat in Deutschland eine relativ kurze Geschichte: Erst seit Ende der 1990er-Jahre beschlossen die Bundesregierung und viele andere Regierungen, sich die Restitution geraubter Kulturgüter zum Ziel zu machen. Seitdem sind öffentliche Einrichtungen wie Museen, Bibliotheken und Archive in der Pflicht, ihre Bestände zu prüfen und zu untersuchen. Dabei gab es schon gleich nach dem Zweiten Weltkrieg eine erste frühe Phase der Restitution: als die sogenannte „Jewish Cultural Reconstruction“, 1947 noch unter den Alliierten eingesetzt, versuchte, kulturelles Beutegut zurückzugeben, das jüdischen Familien und den jüdischen Gemeinden geraubt worden war. Doch dieses Unterfangen endete 1952, und es folgte eine lange Phase, in der Betroffene nur auf eigene Initiative Wiedergutmachung beantragen konnten.

An der Freien Universität wird seit 2010 nachgeforscht, ob Bücher im Besitz der Bibliotheken der Freien Universität ihren Vorbesitzern geraubt worden sind. Anfangs nur vereinzelt, seit zehn Jahren dann verstetigt und auf Dauer angelegt in der Arbeitsstelle Provenienzforschung.

Erschwert wird die Aufgabe durch die „improvisierte“ Entstehung der Freien Universität 1948 und wegen des Ursprungsbestandes ihrer Bibliotheken: Der wurde anfangs relativ spontan von Studierenden und Lehrenden, von Unterstützern, Gönnern und Spendern zusammengetragen, ohne dass sich heute immer nachverfolgen ließe, über welchen Weg ein Buch zur Freien Universität kam, ob es angekauft, geschenkt oder überlassen wurde. Bis heute konnten in 568 Fällen Bücher den Nachkommen ihrer einstigen Besitzerinnen und Besitzer restituiert werden.

Flucht in letzter Minute

Wie kann man sich das aber vorstellen, wenn ein Buch erfolgreich restituiert wird? Elena Brasiler erzählt von einem Buch, das zum Bestand der Bibliothek für Sozialwissenschaften und Osteuropastudien der Freien Universität gehörte. In ihm fand sich ein Exlibris der Familie Sultan. Das Buch – „Freiheitskämpfe“ von Friedrich Naumann, erschienen 1911 – gehörte demnach einst dem erfolgreichen jüdischen Spirituosenhersteller Adolf Sultan, in dessen Haus in der Zwischenkriegszeit Intellektuelle und Künstler wie Max Liebermann und Richard Strauss verkehrten.

Nach 1933 wurde die Familie von den Nationalsozialisten verfolgt und vertrieben; einer Tochter – der Pianistin Grete Sultan – gelang in letzter Minute die Flucht in die USA. „Wir wissen nicht, auf welchem Weg oder Umweg das Buch zur Freien Universität gelangte, nur, dass es 1952 in den Bestand aufgenommen wurde“, sagt Elena Brasiler. Nachdem das Exlibris in der Datenbank „Looted Cultural Assets“ veröffentlicht worden sei, habe sich die Ururenkelin des Besitzers, Barani Guttsman, gemeldet. „Sie war dabei, in Berlin Nachforschungen über ihre Familie anzustellen, und wir waren sehr glücklich, als wir das Buch an sie als Vertreterin der Erbengemeinschaft zurückgeben konnten.“

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