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Der Schriftsteller und Dichter Lutz Seiler in Klagenfurt

© Isolde Ohlbaum

„Nur der Zweifel macht dich besser“: Lutz Seiler zu seiner Gastprofessur an der Freien Universität

Der Dichter und Schriftsteller unterrichtet im Wintersemester deutschsprachige Poetik an der Berliner Hochschule. Im Gespräch erzählt er vom Schreiben und eigenen Erfahrungen als Student.

Von
  • Christine Boldt
  • Sören Maahs

Herr Seiler, zwei Ihrer Vorgänger auf der Gastprofessur für deutschsprachige Poetik haben ihre Seminare sehr unterschiedlich gestaltet: Thomas Meinecke erzählte vor allem – das war ungeheuer spannend und faszinierend. Steffen Mensching dagegen trat eher als Lehrer auf. Er ging von Satz zu Satz in den Texten der Studierenden und fragte: „Ist das gut gesagt?“. Welche Erfahrung haben Sie in der Arbeit mit Studierenden? Sind Sie gern Dozent?
Ich habe vor längerer Zeit mal für ein Semester am Deutschen Literaturinstitut Leipzig unterrichtet, das ja zur Uni Leipzig gehört, das war eine Art Gastprofessur mit zwei Seminaren zur Lyrik. In einem ging es um die Geschichte der Lyrik nach 1945 in Deutschland, ein Vergleich zwischen Ost und West. Das zweite Leipziger Seminar war ein reines Praxisseminar, es ging um die Gedichte der Studenten und Studentinnen. Die jungen Autorinnen und Autoren haben ihre eigenen Sachen vorgestellt, also vorgelesen – dann wurde darüber diskutiert. 15 bis 20 Leute im Raum, teils befreundet, teils eher nicht, ziemlich sensibles Gelände. Man wünscht sich, dass alle mitmachen, sich einbringen, was aber selten geschieht, zu viele Empfindlichkeiten und Ängste. Zugleich die Erfahrung, dass ich als „Lehrer“ nicht viel tauge – man ist es dann ja, egal wie man das verbrämt: als „Freund“, Kollege oder Scharfrichter. Einige von damals sind heute sehr erfolgreich, was mich freut.

Sie sagen „ziemlich sensibles Gelände“ und „Empfindlichkeiten und Ängste“. In der Zeitschrift „Sinn und Form“ haben Sie kürzlich von einem Treffen befreundeter Autorinnen und Autoren im Herbst 1993 erzählt, bei dem Sie einander unveröffentlichte Gedichte vorgelesen haben, unfertige Texte, und von der besonderen Atmosphäre dabei. Welche Voraussetzungen, welchen Raum braucht es dafür?
Unveröffentlichte, vielleicht sogar unfertige Texte zu lesen, setzt ein gewisses Maß an Vertrauen voraus. Die Autorinnen und Autoren, die sich damals im Kreis unserer Zeitschrift „moosbrand“ trafen, kannten sich schon und waren befreundet, das ist natürlich eine ganz andere Ausgangslage. Entscheidend aber ist in jedem Fall der unvermittelte Austausch und etwas, das Gert Neumann einmal „den außerordentlich seltenen Spannungsraum der Begegnung“ genannt hat. Ein Raum für Literatur jenseits der Institutionen, gründend auf bestimmten Überzeugungen, etwa auf jener von der Unbedingtheit des Gedichts. Ein autonomer Ausgangspunkt, der es uns damals erlaubte, auf „eindeutig doppeldeutige Stellen“ zu verzichten: Anschlussfähigkeit, an welchen Diskurs auch immer, musste in dieser Runde nicht bewiesen werden. Es ging „nur“ um Literatur.

Wissen Sie schon, was Sie mit den Studierenden während Ihrer Gastprofessur an der Freien Universität vorhaben?
Gut wäre, sich mit den eingereichten Texten auseinanderzusetzen, da sind ziemlich anspruchsvolle Sachen dabei. Ein Gespräch nah am Text finde ich sinnvoll, konzentrierte Arbeit am Text noch besser, aber möglichst viele müssen dabei mitmachen. Vorträge habe ich keine im Archiv. Kommt kein Dialog zustande, dann lieber schweigen. Das Wichtigste bleibt ohnehin die Lektüre, das Lesen der wirklich guten Sachen. Das als Maßstab und dann der endlose, nervende Zweifel am eigenen Text. Nur der Zweifel macht dich besser. Zweifel bis zum Schluss. Lektüre und Zweifel.

Kann man Schreiben an der Universität überhaupt lernen? Halten Sie Schreiben für lehrbar?
Kurse zum literarischen Schreiben können Abkürzungen sein im Hinblick auf bestimmte Erfahrungen, die ohnehin gemacht werden müssen im Umgang mit Literatur und für ein bestimmtes Wissen, das bei der Arbeit am Text hilft. Möglichst viele verschiedene Dozentinnen und Dozenten kennenzulernen, ist dafür ganz gut, so wie es in Leipzig gemacht wird am Literaturinstitut. Damals waren gleichzeitig Leute wie Moritz Rinke, Norbert Hummelt und Juli Zeh da und haben Seminare gemacht. Ansonsten gilt: Ein Talent setzt sich auch trotz Förderung durch.

Das Ohr als Leit- und Kontrollorgan, die Stimme als Instrument. Das heißt: endloses Sprechen beim Schreiben, laut vor mich hin, so lange, bis ich höre, dass das, was ich sagen will, stimmt, im wahrsten Sinne des Wortes.

Lutz Seiler, Schriftsteller

Studierende, die an Ihrer Schreibwerkstatt teilnehmen, also eigene Texte vortragen und besprechen möchten, konnten sich bewerben. Wonach suchen Sie aus, wer teilnehmen kann?
Die Auswahl erfolgt vollkommen subjektiv – das heißt, ich wähle aus, was ich selbst gut finde, wie sollte ich auch sonst verfahren? Dabei ist es der Text, der zählt, keine außerliterarischen Kriterien. Davon abgesehen war ich ziemlich überrascht darüber, dass ich für das Seminar an der Freien Universität selbst und allein auswählen sollte – mir wäre es lieber gewesen, es hätte dafür im Vorfeld eine Jury gegeben. Mir ist es ohnehin noch nie besonders leichtgefallen, über die Arbeit anderer so kurzerhand zu urteilen – und zu entscheiden. Eine Jury mit Leuten aus verschiedenen Herkünften brächte da mehr Objektivität, falls das bei Literatur möglich ist. Vielleicht wäre das ein Vorschlag für die Zukunft.

Wenn Sie selbst als Student bei Lutz Seiler im Seminar sitzen würden: Was würden Sie sich von ihm wünschen? Was sollte er auf keinen Fall tun?
Er sollte nicht so viel vom Zweifel reden, der einen angeblich besser macht. Er sollte meine Sachen einfach nur großartig finden und mir ein paar Verlage vorschlagen, Suhrkamp oder Hanser wären okay, er könnte da bestimmt etwas machen.

Wie erinnern Sie sich an Ihre eigene Studienzeit Ende der 1980er-Jahre? Sahen Sie sich da schon als Schriftsteller?
Ich habe schon geschrieben, hätte mich aber nie als Schriftsteller bezeichnet. Erst mit dem ersten Buch war das erlaubt, und dann hab ich es im Falle der Frage auch nur halb verschämt herausgebracht, die Antwort war: „Ich schreibe“. Niemals: „Ich bin Schriftsteller.“

Gab es an der Universität Persönlichkeiten, die Sie geprägt haben?
Wir hatten einen wunderbaren Lehrer an der Universität in Halle, der mit uns Lyrik-Seminare zur Geschichte des Barock, der Romantik und des Expressionismus gemacht hat – sein Name war Rüdiger Ziemann, er ist kürzlich verstorben. Seine Güte oder sein Trick: Er tat so, als wären wir schon klug. „Herr Seiler, Sie wissen doch, Hegel hat gesagt …“ So in der Art und ohne jede Attitüde, mit leisem Ernst und voller Respekt. Woraufhin wir uns bemühten, sein positives Vorurteil nicht zu enttäuschen. Ich habe für kein Seminar mehr gearbeitet als für das Ziemann-Seminar. Hegel! Er hat auch sonst die besonderen Sachen gemacht, ein Seminar zur Lyrik Nietzsches zum Beispiel und zur „Fröhlichen Wissenschaft“ – das war fakultativ an einem Donnerstagabend auf dem Dachboden des Instituts, wir waren nicht mehr als fünf Leute, fünf Glückliche, würde ich sagen. Die Erinnerung an die Art der Gespräche dort unter dem Dach prägt mich bis heute.

Sie wollten einmal promovieren. Erinnern Sie sich an das Thema?
Das Thema wechselte so oft über die Jahre, dass ich es nicht mehr sortiert bekomme. Am Ende war geplant, eine Arbeit über die von mir verehrte Autorin Elke Erb zu schreiben, „Textleben und Lebenstext. Das prozessuale Schreiben Elke Erbs“ – so in der Art war der Titel, glaube ich. Ich hatte damals öfter mit ihr darüber gesprochen. Auch über meine Schwierigkeiten mit dem wissenschaftlichen Schreiben und über meine Lust am literarischen Schreiben. Sie war es dann auch, die mich gefragt hat, was das dann eigentlich soll und warum ich es nicht einfach mache, Literatur. Es gibt auch einen kleinen Text von ihr darüber.

Sie sind gelernter Baufacharbeiter, haben als Maurer und Zimmermann gearbeitet. In Ihrem Roman „Stern 111“ wird der dichtende Maurer Carl als „Mann aus der Arbeiterklasse“ vorgestellt. Der Maurer als Handwerker und der Schriftsteller als Handwerker – brauchen die beiden sich gegenseitig? Was ist Handwerk am Schreiben?
Eine Idee vom Handwerk als unmittelbar sinnliche Erfahrung – sei es als Maurer oder Dichter, sei es mit der Hand am Stein oder im Klang eines Wortes im Schädel, Hunderte Male gesprochen und belauscht mit der Frage, ob es das richtige ist – grundiert, was ich mache bei meiner Arbeit. Das Ohr als Leit- und Kontrollorgan, die Stimme als Instrument. Das heißt: endloses Sprechen beim Schreiben, laut vor mich hin, so lange, bis ich höre, dass das, was ich sagen will, stimmt, im wahrsten Sinne des Wortes.

Wo schreiben Sie? Haben Sie einen Lieblingsplatz?
Meine Romane sind in Stockholm entstanden, wo ich auch lebe. Ich kann hier gut arbeiten, etwa die Hälfte meiner Zeit verbringe ich in Schweden, ein zweites Zuhause inzwischen. Ich habe es nicht weit bis ans Meer und kann dort laufen, schwimmen oder im Café sitzen.  

Wenn nicht Schriftsteller, was wären Sie dann geworden?
Bauingenieur. Möglichst im Tiefbau.

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