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Kontrolliertes Bersten eines Chlordruckgaskessels in einem wissenschaftlichen Projekt zur Katastrophenforschung (Jack-Rabbit-Programm).

© Utah Valley University

Chlorspeicher for Future: Wie die Chemie-Industrie von Chlor profitieren könnte

Das Forschungsteam um den Chemiker Sebastian Hasenstab-Riedel sucht nach Wegen für einen gefahrlosen Umgang mit Halogenen – und schaut in die Zukunft.

Von Catarina Pietschmann

Chlor kennt man als Desinfektionsmittel aus dem Schwimmbad oder dem Trinkwasserbeigeschmack in südlichen Ländern. Weniger bekannt ist, dass das Halogen in 55 Prozent aller chemischen Produkte steckt oder darüber hergestellt wird – allen voran den Kunststoffen. Zudem spielt es bei etwa 20 Prozent aller Arzneimittel sowie rund 30 Prozent aller Agrochemikalien eine wichtige Rolle.

Mit 5,5 Millionen Tonnen pro Jahr ist Deutschland Europas größter Produzent von elementarem Chlor (Cl2). Weltweit sind es fast 100 Millionen Tonnen. Gewonnen wird Chlor durch Elektrolyse aus Kochsalz (NaCl) und Wasser, wobei neben Chlorgas noch zwei weitere Grundstoffe entstehen: Natronlauge und Wasserstoff. Der Prozess ist sehr energieaufwendig und verbraucht etwa 2,3 Prozent des gesamten Stroms in Deutschland. „Der CO2-Fußabdruck der Chloralkali-Elektrolyse pro Kilo Produkt liegt etwa in der Größenordnung der Stahlindustrie hierzulande“, sagt Sebastian Hasenstab-Riedel, Professor für Anorganische Chemie.

Bald wird man auch dafür erneuerbare Energien einsetzen können. Aber die gefragte Chemikalie selbst hat eine dunkle Seite. Chlor, im Ersten Weltkrieg als Giftgas eingesetzt, ist ein heikles Gefahrgut: Das gelbgrüne Gas ist schwerer als Luft, reichert sich am Boden an und verätzt rasch Schleimhäute und Atemwege. Um es lagern zu können, wird es zum Beispiel unter Druck verflüssigt und kann so in Tanks transportiert werden. „Das funktioniert gut. Aber sobald es ein Leck gibt, tritt das Chlor ungehindert aus, erklärt Hasenstab-Riedel. Als dies 2022 auf einem Schiff im Hafen von Akaba in Jordanien geschah, starben 13 Menschen, 250 wurden schwer verletzt.

Ionische Flüssigkeiten sollen das Chlor sicher transportieren

Sebastian Hasenstab-Riedel hat eine Technologie entwickelt, mit der sich Chlor ganz gefahrlos lagern und transportieren lässt. Seit Längerem arbeitet sein Team mit Molekülen, die bis zu sechs Chloratome aufnehmen und bei Bedarf leicht wieder abgeben können. Es sind „ionische Flüssigkeiten“ – also im Prinzip Salze, jedoch mit einem Schmelzpunkt von weniger als 100 Grad Celsius, in diesem Fall sogar bei Raumtemperatur. „Basis dafür ist ein quartäres Ammonium-Salz – etwa Triethylmethylammoniumchlorid –, was sich aus zwei preiswerten Basischemikalien herstellen lässt“, erklärt Hasenstab-Riedel. Gibt man das Salz in einem Reaktionsgefäß auf einen feinporigen Glasfilter, eine sogenannte Fritte, und leitet Chlorgas hindurch, reagiert es sofort mit dem Gas: Die ionische Flüssigkeit tropft durch die Fritte, und fertig ist der Chlorspeicher.

„Er ist bei Raumtemperatur stabil und hat kaum Dampfdruck. Es riecht lediglich ein bisschen nach Schwimmbad“, sagt Hasen­stab-Riedel. Für Chlorierungen lässt sich die hellgelbe Flüssigkeit einfach mit einer Pipette herausnehmen und in die Reaktionslösung tropfen. Ist das Gelb verschwunden, ist die Reaktion fertig. Erhitzt man das Speichermolekül auf zum Beispiel 80 Grad Celsius, erhält man das Gas zurück – und das Salz, das nun als Chlorspeicher zur Verfügung steht.

© Utah Valley University

Inzwischen ist das Projekt so weit ausgereift, dass sich Sebastian Hasenstab-Riedel zusammen mit sechs Kollegen mit diesem für das sogenannte Jahrhundertprojekt der Schweizer Werner-Siemens-Stiftung (WSS) beworben hat. Anlässlich ihres 100-jährigen Bestehens hat die WSS 100 Millionen Franken ausgelobt und einen Ideenwettbewerb gestartet, bei dem „Technologien für eine nachhaltige Ressourcennutzung“ erforscht und entwickelt werden sollen. Von den 123 Bewerbern aus Österreich, der Schweiz und Deutschland kamen sechs in die Endrunde und erhielten schon jeweils eine Million Franken. Auch Sebastian Hasenstab-Riedels Team gehört zu den Finalisten.

Die Chlorspeicher können auch bei der Herstellung von grünem Wasserstoff helfen

Doch nun geht es ans „Eingemachte“, denn bis Ende Oktober müssen die Forschenden ein umfangreiches Konzept beim Stiftungsrat einreichen und im Dezember in Zürich verteidigen. Ionische Flüssigkeiten als Chlorspeicher – das klingt fast ein wenig simpel. Doch was Hasenstab-Riedel damit tun will, geht weit über das beschriebene Chlorproblem hinaus.

Wenn es nach Hasenstab-Riedel geht, werden seine Chlorspeicher eine Lösung für gleich mehrere Herausforderungen bieten: Stichwort grüner Wasserstoff: „Die nationale Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, schlägt vor, im globalen Süden durch Elektrolyse, getrieben von Wind- und Solarenergie, aus Wasser Wasserstoff zu gewinnen. Wir denken, es wäre sinnvoll, dort in kleinem Maßstab auch Chloralkali-Elektrolyse zu betreiben.“ Denn auch dabei entsteht grüner Wasserstoff, daneben aber Chlor und Natronlauge. Also gleich drei wichtige Substanzen für die chemische Industrie statt nur einer. Alle drei ließen sich in die ganze Welt transportieren. Das Chlor ist in ionischen Flüssigkeiten nun ganz gefahrlos fixiert.

Auch bei der Materialkonversion könnte Chlor hilfreich sein. Bei Rohstoffen wie den sogenannten Seltenen Erden – einem wichtigen Bestandteil etwa von Mobiltelefonen – ist Europa abhängig von anderen Ländern. „Wir müssen Technologien entwickeln, wie wir Produkte, die diese Stoffe enthalten, einfach recyceln können. Dazu gibt es bereits Ansätze, und wir fügen einen neuen hinzu.“ Eine ganz neue Form des Urban Mining etwa von Elektroschrott.

Zur Transformation der chemischen Industrie hofft Sebastian Hasenstab-Riedel ebenso beitragen zu können: „Wir müssen weg vom Öl und hin zu natürlichen Rohstoffen – etwa zu Lignin.“ Der Holzbestandteil fällt bei der Zellstoffherstellung in großen Mengen als Abfall an. „Lignin bekommen wir mit ionischen Flüssigkeiten in Lösung und gewinnen so chemische Bausteine, erläutert der Chemiker. Nicht zuletzt lassen sich Poly­chloride auch als Speicher für erneuerbare Energien einsetzen. Chlor und Nachhaltigkeit? Zwei bislang eher unvereinbare Begriffe werden an der Freien Universität in einzigartiger Weise zusammengebracht.

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