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Sogenannte Stolpersteine erinnern an NS-Opfer.

© Michael Fahrig

Engagiert gegen Gewalt: „Antisemitismus wird noch immer eher historisch behandelt“

Ein Forschungsprojekt untersucht die Erinnerungsarbeit lokaler Initiativen zu Rassismus und Antisemitismus. Ziel ist es, moderne Formen von Antisemitismus und Rassismus besser bearbeiten zu können.

Von Annette Leyssner

Wessen Geschichte ist wichtig? Manche Gruppen, die unter rassistischer oder antisemitischer Gewalt leiden oder litten, sind nicht so sichtbar wie andere“, sagt Sabine Achour, Professorin für Politikdidaktik/Politische Bildung am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Gemeinsam mit Professorin Karin Scherschel und Elisabeth Lang von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt arbeitet Sabine Achour an dem Forschungsprojekt „EZRA – Rassismus und Antisemitismus erinnern“.

„Erinnerungsarbeit hat viele Aspekte. Es gibt staatlich-institutionelle Erinnerungspolitiken. Es gibt schulische Curricula. Und es gibt lokale Initiativen, die sich der Erinnerungsarbeit widmen“, sagt Sabine Achour. Elisabeth Lang verweist auf „verdichtete Erinnerungspraktiken zu Jahrestagen“, die Ausdruck einer Erinnerung an den Nationalsozialismus und an den Holocaust seien, die zur Staatsräson Deutschlands gehörten. Anders sei es dagegen mit lokalen Gewaltereignissen, zum Beispiel dem Brandanschlag auf eine Asyl-Unterkunft in der Hafenstraße 52 in Lübeck im Jahr 1996. Damals kamen sieben Kinder und drei Erwachsene ums Leben; 38 Menschen wurden verletzt. Die „Initiative Hafenstraße 96“ will das Ereignis lokal sichtbar machen und daran erinnern.

Das Erkenntnisinteresse der Forscherinnen richtet sich auf die Frage: Welche Bedeutung haben zivilgesellschaftliche Initiativen für die öffentliche Erinnerungskultur? Zu diesem Zweck analysieren sie lokale Erinnerungsarbeit in den drei Feldern Nationalsozialismus, Kolonialismus und postnationalsozialistische Gewalt. Für die Studie werden derzeit 20 Initiativen ausgewählt, deren Arbeit näher untersucht werden soll. Dabei werde unter anderem auf eine ausgewogene Verteilung zwischen „West und Ost“ sowie „Stadt und Land“ geachtet, erläutert Elisabeth Lang. „Aus den empirischen Befunden unserer Studie ergeben sich Lernpotenziale für die politisch-historische Bildungsarbeit. Diese machen wir öffentlich zugänglich über eine noch zu entwickelnde Online-Plattform“, sagt Sabine Achour.

Antisemitismus wird noch immer eher historisch behandelt. Die Sensibilität für aktuelle Ausdrucksformen fehlt.

 Elisabeth Lang, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Flucht und Migration in Eichstädt

Die politisch-historische Erwachsenenbildung sei ein pädagogisches Feld, in welchem nicht nur eine Qualifizierung etwa durch Studiengänge fehle, sondern auch eine bildungspolitische Wertschätzung durch die Bereitstellung von Ressourcen, sagt Elisabeth Lang: „Antisemitismus wird noch immer eher historisch behandelt. Die Sensibilität für aktuelle Ausdrucksformen fehlt.“

In das Spannungsfeld von Rassismus und Antisemitismus spiele in Berlin und vielen anderen Städten der Nahost-Konflikt als Projektionsfläche hinein, sagt Sabine Achour. „Damit einher gehen Schwarz-weiß-Narrative von den ‚Guten‘ und ‚Bösen‘, was die Förderung von Ambiguitätstoleranz besonders relevant macht“, betont die Politologin.

Die Forscherinnen fragen: „Wie können verschiedene Diskriminierungserfahrungen aufgegriffen, aber sogenannte „Opferkonkurrenzen“ und daraus möglicherweise entstehende moderne Formen des Antisemitismus und Rassismus reflektierend und kritisch bearbeitet werden? Auf der zu entwickelnden Plattform EZRA sollen dafür skizzierte Konfliktsituationen, Best-Practice-Fälle und Handreichungen zur Verfügung gestellt werden, welche mit Bildungseinrichtungen entwickelt und erprobt werden.

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