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56 Prozent der befragten Briten finden, dass der Austritt Großbritanniens aus der EU falsch war.

© AFP/TOLGA AKMEN

Sieben Jahre Brexit-Votum: Großbritannien und die EU – so weit voneinander entfernt wie nie

Am 23. Juni 2016 hielt die EU den Atem an: Die Briten stimmten für den Brexit. Oxford-Professor Timothy Garton Ash analysiert, warum das Königreich seitdem viel verloren hat.

Ein Gastbeitrag von Timothy Garton Ash

Am siebten Jahrestag des schicksalhaften britischen Votums vom 23. Juni 2016 für den Austritt aus der EU ist der Zustand der Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU oberflächlich betrachtet ermutigend – und strukturell gesehen deprimierend.

Großbritannien ist wie ein Segelboot, das in der Mitte des Ärmelkanals vor sich hindümpelt. Die meisten Passagiere wollen, dass es näher an die kontinentale Küste steuert, und selbst der Kapitän scheint bereit zu sein, seinen Kurs in bescheidenem Umfang zu ändern. Doch starke Winde und Strömungen treiben das Schiff immer weiter vom Festland ab.

Es wird eine sehr viel entschiedenere Kursänderung durch einen neuen Kapitän erfordern, wenn nächstes Jahr eine andere Mannschaft an Bord kommt, damit die Kräfte der Konvergenz über die der Divergenz siegen.

Brexit: Für die Mehrheit der Briten ein Fehler

In der letzten regulären YouGov-Umfrage, die im vergangenen Monat durchgeführt wurde, sagten 56 Prozent der Befragten, dass der Austritt Großbritanniens aus der EU falsch war, gegenüber 31 Prozent, die ihn für richtig hielten. 62 Prozent sagten, der Brexit sei „eher ein Misserfolg“ gewesen, während nur neun Prozent darin „eher einen Erfolg“ sahen.

56
Prozent der Briten fanden den Brexit laut einer YouGov-Umfrage falsch.

In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Opinium, in der vier Optionen für die künftigen Beziehungen angeboten wurden, entschieden sich 36 Prozent der britischen Befragten für einen Wiedereintritt in die Europäische Union. 25 Prozent möchten sehr, dass eine engere Beziehung zur EU ausgehandelt wird, als sie derzeit besteht.

Die Politik hinkt der Öffentlichkeit nach: Großbritanniens Premierminister Rishi Sunak sieht zwar die pragmatischen Gründe für bessere Wirtschaftsbeziehungen mit Europa als größtem Binnenmarkt des Vereinigten Königreichs. Aber er ist und bleibt eben auch ein echter Brexit-Befürworter – extremer sogar, als es sein in Ungnade gefallener Vorgänger Boris Johnson je war.

Unter Premier Sunak sind kaum Verbesserungen zu erwarten

Sunaks Welt ist das Silicon Valley an einem und das dynamische Asien am anderen Ende. Er zögert sogar, die Rechnung für den Wiedereintritt Großbritanniens in das Horizon-Programm für wissenschaftliche Zusammenarbeit zu bezahlen, obwohl sich Wissenschaftler von beiden Seiten des Kanals fast einstimmig dafür aussprechen.

Angesichts der anhaltenden Stärke der Brexit-Befürworter in Sunaks Partei und der einschüchternden Macht der euroskeptischen Presse sind unter seiner Führung nur kleine, schrittweise Verbesserungen zu erwarten.

Unterdessen konzentriert sich der Oppositionsführer der Labour-Partei, Keir Starmer, unerbittlich darauf, die Parlamentswahlen im kommenden Jahr zu gewinnen. Er glaubt, dass das nur möglich ist, wenn man jene Wähler zurückgewinnt, die vom Brexit begeistert waren und deshalb bei der Wahl 2019 zu Boris Johnsons Konservativen mit dem Slogan „Get Brexit Done“ wechselten.

Keir Starmer, Oppositionsführer der Labour-Party
Keir Starmer, Oppositionsführer der Labour-Party

© AFP/ANDY BUCHANAN

Beraten wird Starmer von der Meinungsforscherin Deborah Mattinson. In ihrem Buch „Beyond the Red Wall“ beschreibt sie, wie ihr einer dieser Wechselwähler den Moment beschrieb, als er 2016 das Ergebnis des Brexit-Referendums hörte. Er habe sich demnach gefühlt, „als hätte England die Fußballweltmeisterschaft gewonnen“.

Labour-Partei plädiert für ein neues EU-Abkommen

Labour-Chef Starmer veröffentlichte kürzlich einen Gastbeitrag in der rechten, stark euroskeptischen Zeitung „Daily Express“, in dem er rundheraus behauptete, dass „Großbritanniens Zukunft außerhalb der EU liegt. Nicht im Binnenmarkt, nicht in der Zollunion, nicht mit einer Rückkehr zur Freizügigkeit.“ Diese Argumente lägen dort, wo sie hingehörten – in der Vergangenheit.

Mit jedem Tag, an dem nicht darauf aufgebaut wird, fressen unsere europäischen Freunde und Konkurrenten nicht nur unser Mittagessen – sie klauen auch unser Geld fürs Abendbrot. 

Keir Starmer, Oppositionsführer der Labour-Partei

Er fuhr fort: „Der papierdünne Deal der Tories hat das Potenzial Großbritanniens unterdrückt und die Handelsbedingungen gegenüber der EU enorm belastet. Mit jedem Tag, an dem nicht darauf aufgebaut wird, fressen unsere europäischen Freunde und Konkurrenten nicht nur unser Mittagessen – sie klauen auch unser Geld fürs Abendbrot.“

62 Prozent der Briten finden, dass der Brexit ein Misserfolg war.
62 Prozent der Briten finden, dass der Brexit ein Misserfolg war.

© AFP/PHILIPPE LOPEZ

Bei genauem Hinsehen plädierte dieser Artikel tatsächlich für ein neues Abkommen mit der EU, aber er spielte auch das alte New-Labour-Spiel, nämlich die euroskeptische Boulevardpresse zu beschwichtigen.

Falls Labour die nächsten Wahlen gewinnt – ob mit oder ohne parlamentarische Unterstützung durch die Liberaldemokraten und/oder die Scottish National Party –, wird die neue Regierung zweifellos ein besseres Abkommen mit der EU anstreben.

Wie der Krieg in der Ukraine sich auswirkt

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass bis zum zehnten Jahrestag des Referendums im Juni 2026 eine für 2025 vorgesehene Überprüfung des Handels- und Kooperationsabkommens zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich durch den Ärmelkanal die Tür zu engeren Wirtschaftsbeziehungen geöffnet haben könnte.

Dies könnte erhebliche Elemente einer Beteiligung am Binnenmarkt und an der Zollunion mit einer entsprechenden Angleichung der Rechtsvorschriften beinhalten. Es ist jedoch schwer zu erkennen, wie die Labour-Partei auch nur im Entferntesten hoffen kann, ihr äußerst ehrgeiziges Ziel zu erreichen, „das höchste nachhaltige Wachstum unter den G7-Ländern zu sichern“, ohne die Reibungen mit dem größten Markt des Landes nach dem Brexit zu verringern.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und der britische Premierminister Rishi Sunak
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und der britische Premierminister Rishi Sunak

© IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Pool /Ukrainian Presidentia

Hier gibt es einen interessanten Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Die Debatte über die künftigen Beziehungen der Ukraine zur EU konzentriert sich jetzt auf eine schrittweise, progressive Integration in Bereichen wie Energie, Umwelt, Verkehr und Binnenmarkt. Wenn die Ukraine schrittweise integriert werden kann, kann dann nicht auch das Vereinigte Königreich schrittweise reintegriert werden?

Die EU und Großbritannien driften weiter auseinander

Dennoch bleibt die zugrunde liegende Dynamik der Divergenz zwischen den Kanälen bestehen. Mit jedem Monat, der verstreicht, driften das Vereinigte Königreich und die EU zusehends auseinander. Einst starke kulturelle, kommerzielle, künstlerische, wissenschaftliche und politische Bindungen werden schwächer. Ein britischer Universitäts-Vizekanzler sagte mir kürzlich, dass die Zahl seiner EU-Studenten um 90 Prozent zurückgegangen sei. Großbritannien hat insgesamt mehr Einwanderer als vor dem Brexit-Votum, aber weniger aus der EU.

Erst vor Kurzem war ich in Irland, Estland, den Niederlanden, Deutschland und Schweden. In all diesen nordeuropäischen Ländern, die die Briten einst als besondere Partner und Freunde innerhalb der Europäischen Union betrachteten, wird Großbritannien heute kaum noch erwähnt – außer vielleicht als Objekt des Mitleids, des Spotts und der Verachtung.

Die schmutzige Farce um Johnsons Rücktritt und sein schändliches Ausscheiden aus dem Unterhaus haben diese Gefühle nur noch verstärkt. Diese Länder haben neue Partnerschaften geschlossen, wie es auch Menschen nach einer Trennung tun. Sie haben sich weiterentwickelt.

Das Gleiche gilt für die EU selbst. Als Reaktion auf die Covid-Krise und vor allem auf den Krieg in der Ukraine erlebt die politische Kerngemeinschaft Europas eine Phase recht dynamischer Integration in Bereichen, die für Großbritannien von vitalem Interesse sind: Sicherheitspolitik und Rüstungsbeschaffung; Digitalpolitik und die Regulierung von KI; groß angelegte Unterstützung der Industrie bei der Umstellung auf umweltfreundliche Technologien, die mit Bidens Finanzpolitik in den USA auf der einen und der chinesischen Industriepolitik auf der anderen Seite konkurrieren.

Auch wenn die Segel des Schiffes „Global Britain“ seiner Majestät mitten im Ärmelkanal flattern, steht Großbritannien nicht still. Sowohl die konservative Regierung als auch die Labour-Opposition entwickeln ihre eigenen Varianten dieser Politik, die von denen der EU abweichen und mit ihnen konkurrieren können.

In mehreren Schlüsselbereichen wie Technologie, künstliche Intelligenz, Kultur- und Kreativwirtschaft und Finanzdienstleistungen hat Großbritannien immer noch Stärken, die es zu einem ernsthaften Konkurrenten machen.

Die neue britische Regierung wird eine mutige Strategie verfolgen müssen – und beide Seiten müssen guten Willen zeigen, um diesen tiefgreifenden Divergenzen entgegenzuwirken.

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