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Eine Szene aus „Adèle Blanc-Sec – Das Baby im Park Buttes-Chaumont“.

© Schreiber & Leser

Grande Finale für Comic-Reihe „Adèle Blanc-Sec“ : Die Monster der Moderne

Mit „Adèle Blanc-Sec“ ebnete Jacques Tardi ab den 70er Jahren den Weg für ambitionierte Erwachsenen-Comics. Jetzt ist der Abschlussband der Reihe erschienen.

Trügerische Idylle im Pariser Park Buttes-Chaumont, kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs: Ein Soldat geht mit seiner Frau und Baby im Kinderwagen spazieren, protzt dabei von seinen Heldentaten im Luftkampf, als die roten Tentakel eines Monsters das Baby aus seinem Wagen herausholen und mit ihm im Gebüsch verschwinden.

Die Entführung eines Babys ist nur eine von vielen Ungeheuerlichkeiten, die der französische Comiczeichner Jacques Tardi, Jahrgang 1946, im Laufe seiner „Adèle Blanc-Sec“-Reihe seinen Leserinnen und Lesern zumutet.

Nun ist der schon lange erwartete zehnte Band im Hamburger Verlag Schreiber und Leser erschienen (sowohl als Einzelband wie als Teil der Gesamtausgabe), der die vom Zeichner 1974 begonnene legendäre Reihe abschließt: „Adèle Blanc-Sec – Das Baby im Park Buttes-Chaumont“ (Übersetzung: Martin Budde, 64 S., 19,80 € / Sammelband III, 224 S., 39,80 €).

Mürrische Heldin: Eine Seite aus „Adèle Blanc-Sec – Das Baby im Park Buttes-Chaumont“.
Mürrische Heldin: Eine Seite aus „Adèle Blanc-Sec – Das Baby im Park Buttes-Chaumont“.

© Schreiber & Leser

Der Auftakt „Adèle und das Ungeheuer“ handelte von einem 1911 aus einem prähistorischen Ei im Pariser Naturhistorischen Museum geschlüpften Flugsaurier, einem Pterodaktylus, der ganz Paris am Vorabend des Ersten Weltkrieges in Unruhe versetzt.

In den folgenden Bänden ging es unter anderem um einen antik-assyrischen „Dämon im Eiffelturm“, einen zum Leben erweckten und erstaunlich intellektuellen Affenmenschen, und sich selbst aus ihren Wickeln befreienden altägyptischen Mumien.

Abschluss einer bahnbrechenden Comicreihe

Die Titelheldin, die Groschenroman-Autorin Adèle Blanc-Sec, versucht die mysteriösen Vorgänge zu erklären und deckt nicht selten ein Komplott allerhöchster Kreise auf. Sie verwertet ihre Erlebnisse alsbald in ihren Trivialromanen, die die gleichen Titel tragen wie die Comicbände von Jacques Tardi.

Nachdem sie ermordet wurde und den ersten Weltkrieg in tiefgefrorenem Zustand verbringt, wird sie kurz nach dem Krieg erfolgreich von einem Wissenschaftler wiederbelebt. Erneut wird sie Zeugin fantastischer Vorgänge und Verschwörungen, hinter denen meist größenwahnsinnige Wissenschaftler stecken, und begegnet manch verkrachter Existenz, die zum Spielball der Zeitläufte wird.

Obskure Abenteuer in Paris: Eine weitere Szene aus dem besprochenen Album.
Obskure Abenteuer in Paris: Eine weitere Szene aus dem besprochenen Album.

© Schreiber & Leser

Der neue Band „Das Baby im Park Buttes-Chaumont“ führt nun die zahlreichen, von Tardi bewusst verwirrend angelegten Handlungsstränge zusammen und kann am Ende sogar mit einem (ironisch-absurden) Happy End aufwarten.

Schon die ersten zwei Bände von Adèle Blanc-Secs Abenteuern wurden in der auflagenstarken französischen Zeitung „Sud-Ouest“ vorab veröffentlicht, bevor sie als Alben erschienen. Der junge Jacques Tardi feierte mit ihnen seinen Durchbruch und zeigte, dass Mitte der 1970er Jahre die Zeit reif war für ambitionierte Comics für erwachsene Leser.

Die Fortsetzungen erschienen unter anderem im 1978 gegründeten, mit literarischem Anspruch versehenen Comicmagazin „(A suivre)“ („Fortsetzung folgt“). „Adèle“ wurde zu einer der wichtigsten Comicserien einer neuen frankobelgischen Zeichnergeneration.

Anspielungen auf Schauerliteratur und frühe Filmserials

Tardi stattete ihre Abenteuer mit zahlreichen Anspielungen auf reale Vorkommnisse der Zeit aus - der Untergang der Titanic wird etwa als missglückter Mordanschlag auf Adèle Blanc-Sec gedeutet. Zunächst legte er „Adèle“ als Parodie des im 19. Jahrhunderts populären Feuilleton-Romans an, eines oft mit trivialen Elementen versehenen Fortsetzungsgenres, das in Zeitungen oder Magazinen abgedruckt wurde.

Eine weitere Szene aus „Adèle Blanc-Sec – Das Baby im Park Buttes-Chaumont“.
Eine weitere Szene aus „Adèle Blanc-Sec – Das Baby im Park Buttes-Chaumont“.

© Schreiber & Leser

Den historischen Hintergrund bildete das pittoreske Zeitalter der späten Belle Époque um 1900 in Paris. Tardi zeichnet es - in Anlehnung an den Jugendstil - betörend schön und zugleich düster. Die Epoche wird auch als „Fin-de-Siècle“ bezeichnet, in der Weltuntergangsstimmungen en vogue waren und das Genre der morbiden Dekadenzliteratur blühte.

Tardis Comicreihe huldigt diesem Zeitgeist voll und ganz, bis hin zur Darstellung okkulter Riten in „Der Dämon vom Eiffelturm“. Mary Shelleys „Frankenstein“-Roman und Edgar Allan Poes Schauergeschichte „Gespräch mit einer Mumie“ dienen Tardi als Referenzen, wie er auch Arthur Conan Doyles Saurierfantasie „Die verlorene Welt“ und die „Sherlock Holmes“-Serie zitiert.

Daneben werden Anspielungen auf die in den 1910er Jahren beliebten Filmserials („Fantômas“) motivisch ins Handlungsgerüst eingeflochten. Eine besonders fiese Rolle kommt - fast schon traditionell bei Tardi - dem zutiefst korrupt dargestellten Pariser Polizei- und Justizapparat zu: Für seinen brutalen Inspektor „Laumanne“, der gerne kleine Guillotinen als Zigarrenanzünder verwendet, gibt der Zeichner das Gesicht des deutschen Schauspielers Otto Wernicke, der in Fritz Langs Filmklassiker „M“ (1931, sowie in „Das Testament des Dr. Mabuse“ von 1933) Kommissar „Lohmann“ spielt .

Das Titelbild des Abschlussbandes der Reihe.
Das Titelbild des Abschlussbandes der Reihe.

© Schreiber & Leser

In den späteren Adèle-Bänden zitiert sich Tardi zunehmend selbst. So bringt er etwa mit Lucien Brindavoine eine Figur aus zwei frühen Erzählungen („Das Ende der Hoffnung“, „Für Volk und Vaterland“, 1974) in die Handlung ein. Weitere Charaktere entstammen Tardis Einzelalbum „Der Dämon im Eis“ (Schreiber und Leser, 64 S., 19,80 €), einer bereits 1972 entstandenen, an Jules Verne erinnernden phantastischen Reiseerzählung (ebenfalls gerade von Schreiber und Leser neu übersetzt und aufgelegt).

Nicht zuletzt klingt mehrfach Tardis Faszination für das Thema Erster Weltkrieg in der Adèle-Reihe an, da mehrere beteiligte Figuren Kriegsteilnehmer waren, Traumatisierte und auch danach Spielbälle obskurer Mächte – staatlicher, militärischer und wissenschaftlicher - zu bleiben scheinen. Das Thema bearbeitete er ausführlich und äußerst kritisch in Werken wie „Grabenkrieg“ (1982-1993) und „Elender Krieg“ (2008-09).

1923 enden die Abenteuer der meist mit einem skeptisch-missmutigen Gesichtsausdruck versehenen Adèle Blanc-Sec - einer überzeugten Einzelgängerin, die gerne in der Badewanne über ihre Erlebnisse räsoniert und dabei eine Zigarette raucht.

Wenn es eine Comicreihe gibt, die am ehesten der epischen Komplexität von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ entspricht, und doch etwas ganz Eigenes darstellt, so ist es „Adèle Blanc-Sec“, die ihre verwirrende Epoche zwischen zwei Weltkriegskatastrophen betrachtet, ohne sie je ganz zu verstehen.

Der letzte Band wartet mit einer Pandemie auf, die den Bürgern von Paris Tentakel aus den Ohren wachsen lässt und sie zu gehörnten Rindviechern mutieren lässt – oder sind es Minotauren aus Tardis erzählerischem Labyrinth?

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