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Der furchtlose Seydou (Seydou Sarr, stehend mitte) übernimmt in dem Flüchtlingsboot das Ruder.

© Greta De Lazzaris/X-Verleih

Fluchtdrama „Ich Capitano“ im Kino: Dieses Schicksal hat einen Namen

Sein preisgekröntes Fluchtdrama „Ich Capitano“ erzählt Matteo Garrone als homerische Odyssee mit fantastischen Elementen. Kann das gut gehen?

Selbstvergessen drischt der junge Seydou auf seine Trommel ein. Ekstatisch gibt sich eine seiner Schwestern dem Rhythmus des Tanzes hin. Beim Sabar, dem traditionellen Tanz der Wolof im Senegal, bilden die Musiker und die Tanzenden eine besondere Einheit. Ein fröhlicher Abend in Dakar. Und ein heimlicher Abschied. Gemeinsam mit seinem Cousin Moussa plant Seydou die Flucht nach Europa.

Eine Karriere als Hip-Hop-Stars, so die Idee, wird ihnen viel Geld einbringen, damit können sie ihre Familien unterstützen. Warnungen schlagen die Jungs in den Wind. So viele seien in der Wüste oder im Meer umgekommen, sagt Seydous Mutter unter Tränen: „Ihr seid naiv!“ Sie ahnt, was ihr Sohn vorhat, und sie spürt auch, dass sein Traum stärker ist als alle Vorbehalte.

Inspiriert von Erfahrungsberichten

Im Filmtitel „Ich Capitano“ steckt schon der Hinweis auf das letzte Kapitel der Reise von Seydou und Moussa: die Passage über das Mittelmeer. In grausiger Regelmäßigkeit wird über Bootsunglücke berichtet. Seit 2014 sind über 29.000 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken. Über menschliche Schicksale erfahren wir in den Statistiken und Schlagzeilen so gut wie nichts. Hier setzt der Regisseur Matteo Garrone an, dessen Drehbuch von Erfahrungsberichten inspiriert ist.

Garrone stammt aus Italien, dem Land, in dem seine jungen Protagonisten ankommen wollen. Aber die europäische Perspektive blendet „Ich Capitano“ aus. Ganz zu schweigen vom politischen Diskurs in den Zielländern und von jedweder Dämonisierung der Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben. Das Gegenteil, Mitgefühl, erzeugt Garrone. Deshalb ist es wichtig, dass seine Hauptfiguren jung und unbedarft sind.

Als Besetzungs-Glücksgriff erweist sich vor allem Hauptdarsteller Seydou Sarr. Den unverbrüchlichen Optimismus seiner Figur, die fast wie im Schelmenroman sämtliche Widrigkeiten der Odyssee übersteht und daran wächst, transportiert der 22-Jährige mit starker Leinwandpräsenz und lebendigem Mienenspiel. Sarr hat die Auszeichnung als bester Nachwuchsdarsteller auf der Mostra von Venedig redlich verdient.

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Die Route, die Seydou und Moussa einschlagen, verläuft vom Senegal über Mali durch die Sahara. Sie werden von Passfälschern ausgenommen, von Schleusern betrogen und von Rebellen bestohlen. In der Wüste werden die Cousins getrennt; am Tiefpunkt seiner Reise, einem libyschen Foltergefängnis, ist Seydou auf sich allein gestellt, entkommt der Hölle aber dank einem Mitgefangenen, der für ihn zu einer Art Vaterfigur wird.

Gemeinsam mit seinem Retter kann er sich mit dem Bau eines Zierbrunnens für einen reichen Libyer freikaufen. In Tripolis macht sich Seydou auf die Suche nach Moussa, den er tatsächlich wiederfindet. Gemeinsam warten sie auf ein Boot, das sie nach Italien bringt.

Die Härten der Flucht im milden Licht

Auf den Filmfestspielen von Venedig 2023 waren zwei komplementäre Flucht-Dramen zu sehen. Neben „Ich Capitano“ lief noch „Green Border“ im Wettbewerb, in dem Agnieszka Holland multiperspektivisch und erschreckend realistisch von Geflüchteten und Helfer:innen im Niemandsland zwischen Polen und Belarus erzählte.

Anders Garrone mit seiner Fokussierung auf zwei Jugendliche: Indem der Regisseur, trotz aller Härten, ihre Reise in weitgehend mildes Licht taucht, setzt sich der Regisseur auch vom nüchtern-dokumentarischen Stil seines Mafia-Dramas „Gomorrah“ ab, mit dem ihm 2008 der internationale Durchbruch gelang. In Momenten wird „Ich Capitano“ sogar zur homerischen Odyssee, denn es gibt fantastische Elemente, die als Wunschprojektionen Seydous übergangslos in die Handlung eingebettet sind.

Anflug von Hoffnung. Seydou (Seydou Sarr) hat auf seinem Marsch durch die Wüste Visionen einer Mitreisenden.
Anflug von Hoffnung. Seydou (Seydou Sarr) hat auf seinem Marsch durch die Wüste Visionen einer Mitreisenden.

© Greta De Lazzaris / X Verleih

Eine Leidensgenossin, die er in der Sahara sterbend zurücklassen musste, ist wenige Augenblicke später wieder lebendig und lässt sich nun, über dem Sand schwebend, von Seydou durch die Wüste führen. Später erscheint noch eine magische Engelsfigur im Foltergefängnis, die mit Strohflügeln durch die Wüste fliegt, um Seydous schlafender Mutter eine trostreiche Traumbotschaft einzuflüstern. Die Fantasy-Einsprengsel geben eine Ahnung davon, was aus „Ich Capitano“ visuell hätte werden können. Zwar hat die ganze Story einen Stich ins Märchenhafte – aber die überwiegend routinierte Kameraarbeit von Paolo Carnera trägt wenig dazu bei, diesen Aspekt zu stützen. 

Besonders starke Akzente setzt das Drehbuch immer da, wo die naiven Helden mit der Erbarmungslosigkeit des Kapitalismus konfrontiert sind. Die falschen Pässe, für die Seydou und Moussa ein Heidengeld hinblättern mussten, taugen nichts. Aber für 50 Dollar pro Kopf lässt der korrupte Grenzschützer sie gerne passieren. Die Summen, die verlangt werden, steigern sich von Wegstation zu Station ins Unermessliche.

Garrone zeigt eine Welt, die Menschen zu Humankapital degradiert. In der finalen Sequenz im Mittelmeer tauchen riesige Ölplattformen aus dem Seenebel, die vom Flüchtlingsschiff aus mit der italienischen Küste verwechselt werden. Es ist aber nicht das gelobte Land, sondern ein Symbol jener zerstörerischen Kraft, die Seydou und Moussa aus ihrem Land getrieben hat. Doch ausgerechnet in den (irritierend idyllischen) Anfangsszenen in Dakar ist von den Fliehkräften des Kapitalismus wenig zu spüren. Als wollte Garrone sagen: Wärt ihr doch zuhause geblieben!

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