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Regisseur Matteo Garrone und sein Hauptdarsteller Seydou Sarr werden beide für das Geflüchtetendrama „Io Capitano“ ausgezeichnet.

© imago/Independent Photo Agency Int./IMAGO/Manuele Mangiarotti / ipa-agency

Bilanz des Venedig Filmfestivals: Politisches Kino, das Grenzen überschreitet

Es ist ein Zeichen, dass dieses Jahr gleich zwei Fluchtdramen Preise gewinnen. Und mit dem Goldenen Löwen für die Horrorgroteske „Poor Things“ kommt auch das Starkino nicht zu kurz.

Von Andreas Busche

Venedig ist den Monstern des Kinos tatsächlich wohlgesonnen. Mit Giorgos Lanthimos’ Frankenstein-Variation „Poor Things“, auf die sich in den vergangenen zwölf Tagen so ziemlich alle einigen konnten, haben die Filmfestspiele von Venedig – sechs Jahre nach „The Shape of Water“ – erneut einen Löwen-Gewinner, der mit Motiven des Horrorfilms spielt.

Ein Monster wie Bella Baxter hat das Kino allerdings noch nicht gesehen; und auch Emma Stone dürfte sich in ihrem zweiten Film mit dem griechischen Regisseur, dessen Weg zu den Oscars vor fünf Jahren mit „The Favourite“ an dieser Stelle seinen Ausgang nahm, in Venedig verewigt haben.

Stone legt in „Poor Things“ eine furiose und geradezu entgrenzte Soloperformance hin; es ist nicht übertrieben, wenn Lanthimos in seiner Dankesrede ihr alle Credits für die Auszeichnung gibt. Bella ist eine Chimäre der modernen Wissenschaft: Ein Arzt hat das Gehirn ihres eigenen Babys in den Körper der verstorbenen Bella transplantiert, so durchläuft sie die frühkindliche Entwicklung noch einmal und wird mit zunehmendem Bewusstsein vom „Forschungsobjekt“ zum weiblichen Subjekt – mit einer unstillbaren Libido. 

Bella macht sich auf, die Welt der Männer zu erkunden: Kaum ein Regisseur verbindet das Groteske, das Makabre und die Sozialsatire derzeit so virtuos wie Lanthimos

Das Venedig Filmfestival ist aber nicht nur ein beliebtes Schaufenster für Hollywood, sondern auch von zentraler Bedeutung für das italienische Kino – und damit ein Politikum. Niemand möchte gerade die Halbwertzeit der skandalumwitterten Meloni-Regierung prognostizieren, doch die Sorgen in Italien sind groß. Nicht mal unter Berlusconi hat die Politik so massiv in das Kulturleben eingegriffen. Auch die Biennale, die Dachorganisation des Filmfestivals, dürfte von den kulturpolitischen Personalrochaden nicht verschont bleiben.

Darum sollte man den Regiepreis für Matteo Garrones Geflüchtetendrama „Io Capitano“ auch als Signal verstehen. Der Film begleitet einen jungen Senegalesen, gespielt von Seydou Sarr, auf seiner Odyssee durch die Sahara und über das Mittelmeer. Garrone spart dabei keine Brutalität aus, er will das Mitgefühl des Publikums mit drastischen Mitteln. Es dauert sehr lange, bis „Io Capitano“ das Bild findet, auf das Garrone von Beginn an hinaus will: der triumphierende Blick Seydous, im Angesicht eines Helikopters der Küstenwache. Für sein Kinodebüt erhielt Seydou Sarr zu Recht den Nachwuchsdarsteller-Preis.

Preise gegen Meloni-Regierung

Der Blick auf die Welt gehört heute zu den wesentlichen Aufgaben eines Filmfestivals, das macht sie in vielen Ländern – Polen, Türkei, Aserbaidschan etc. – zu den (oftmals wenigen) Leuchttürmen der Demokratie. Man muss nicht lange rätseln, was wohl ein Kabinett, in dem Rassisten, Putin-Anhänger, LGBTQ-Gegner und Leugner des Klimawandels sitzen, über diese 80. Ausgabe des Venedig Filmfestivals denkt. Die Politik möchte „linkes“ Kino wie „Io Capitano“ in Zukunft am liebsten gar nicht mehr mit Steuergeldern fördern.

Nach seinem silbernen Löwen 2018 gewinnt Giorgos Lanthimos mit „Poor Things“ nun auch den Hauptpreis.
Nach seinem silbernen Löwen 2018 gewinnt Giorgos Lanthimos mit „Poor Things“ nun auch den Hauptpreis.

© REUTERS/Guglielmo Mangiapane

Überhaupt war die diesjährige „Mostra“ ganz gegenwärtig, auch wenn die großen amerikanischen Filme, mit denen immer eine Hoffnung auf Glamour verbunden ist, sich allesamt mit historischen Figuren beschäftigten: Enzo Ferrari, Leonard Bernstein, Priscilla & Elvis. Vielleicht muss man es daher auch als Zugeständnis verstehen, dass Cailee Spaeny für ihre Titelrolle in Sofia Coppolas „Priscilla“ den Darstellerinnenpreis erhielt. Biopics sind meist eben doch Schauspielfilme.

Den besten Eindruck hinterlassen in diesem Jahr sowieso die kleinen Filme, die sich thematisch und formal stärker an den aktuellen Entwicklungen im internationalen Kino orientieren. Mit dem zweiten Geflüchtetendrama im Wettbewerb „Green Border“ macht die polnische Regisseurin Agnieszka Holland auf dem Lido Politik. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Polens Justizminister Zbigniew Ziobro verglich ihren Film vor einigen Tagen mit NS-Propaganda. Auch in Hollands Fall setzte die Jury um US-Regisseur Damien Chazelle ein Zeichen: „Green Border“ wurde mit dem Spezialpreis ausgezeichnet.

Gegenwärtiges Kino am Lido

Ein Propagandafilm ist Hollands Drama an der polnisch-belarussischen Grenze, wo eine Gruppe syrischer und afghanischer Geflüchteter im Frühjahr 2021 von den Grenzsoldaten beider Seiten auf brutalste Weise hin und her geschoben werden, aber gerade nicht. „Green Border“ zeigt den Sadismus der Soldaten, aber auch einen unter ihnen, den das gewaltsame Vorgehen traumatisiert. Er beschreibt die zunehmende Verzweiflung der Geflüchteten, die vom belarussischen Präsidenten als Druckmittel gegen die EU eingesetzt werden. Und er begleitet den Sisyphos-Kampf der Flüchtlingshelferinnen gegen das Grenzregime.

Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland steht mit „Green Border“ stellvertretend für die politischen Filme dieses Venedig-Jahrgangs.
Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland steht mit „Green Border“ stellvertretend für die politischen Filme dieses Venedig-Jahrgangs.

© AFP/Gabriel Bouys

Holland beschreibt in kontrastreichen Schwarz-weiß-Bildern die Zustände am östlichen Rand von Europa aus vielen Perspektiven, konzentriert und effizient erzählt. Die Beleidigung aus Polen hat ihr Profil am Lido nur noch gestärkt, wo in der vergangenen Woche auch mit Aktionen an die Menschen im Iran und in der Ukraine erinnert wurde.

Der Ukrainekrieg stellt gewissermaßen den Epilog von „Green Border“ dar. Hollands Plädoyer für die Menschlichkeit spiegelt sich auch in einem Satz der Dankesrede von Peter Sarsgaard wider, der für seine Rolle als Demenzkranker in Michel Francos „Memory“ ausgezeichnet wurde: „Entfremdung ebnet den Weg zu Grausamkeiten.“

Im Einklang mit der Natur

Als ebenso geduldiger Formalist wie unsentimentaler Humanist erweist sich auch erneut der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi, der seine meditativ-lyrische Vater-Tochter-Geschichte „Evil Does Not Exist“ in einer kleinen Gemeinde außerhalb Tokios ansiedelt. Die Pläne für einen Luxus-Campingplatz in der unberührten Natur sorgen für Unruhe unter den Menschen, die im Einklang mit dem fragilen Ökosystem leben.

Hamaguchi lässt diesen Konflikt aber nie eskalieren, sein Film entwickelt vielmehr, über seine wortkarge Hauptfigur Takumi, ein symbiotisches Bewusstsein für die Umwelt. Es zeugt von Stilwillen, dass die Jury Hamaguchi, der langsam zu dem maßgeblichen Regisseur des japanischen Kinos wird, mit dem Großen Preis auszeichnet. Auch die stillen Bilder von „Evil Does Not Exist“ reichen aus dem Kino weit hinaus in unsere Gegenwart.

Der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi gewinnt mit „Evil Does Not Exist“ den Großen Preis der Jury.
Der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi gewinnt mit „Evil Does Not Exist“ den Großen Preis der Jury.

© REUTERS/Guglielmo Mangiapane

Während sich also die Filmbranche lange mit der Frage aufhielt, ob ein Filmfestival und Industrie-Inkubator wie Venedig ohne Stars auskommen würde, hat das Kino am Lido in seiner ganzen Bandbreite bewiesen, dass der Trubel drumherum letztlich nur vom Wesentlichen ablenkt. Am Ende ist eben doch die Leinwand der Ort, an dem die Stars das Kino zum Strahlen bringen – nicht ein paar Quadratmeter roter Teppich.

So wie eben Emma Stone in „Poor Things“. Oder auch Léa Seydoux, die in Bertrand Bonellos rätselhaft-verschachteltem Science-Fiction-Film „La Bête“ (nach Henry James) im Jahr 2044 über eine Zeitspanne von über einem Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen das Optimierungsregime einer Künstlichen Intelligenz verteidigt.

Das Filmfestival erweist sich als krisenresistent

Die Befürchtung, dass das Venedig Filmfestival ohne den Hollywood-Zirkus an Bedeutung verlieren könnte, hat sich also als unbegründet erwiesen. Der Lido hat sich erneut – nach der Pandemie-Ausgabe 2020 – krisenresistent gezeigt. Allerdings ist er auch in diesem Jahr kein Ort der Entdeckungen. Im Wettbewerb überwogen die etablierten Namen des amerikanischen und des internationalen Kinos.

Für die Filmindustrie mag das ein gutes Zeichen sein. Aber die zunehmend schwierigen Produktionsbedingungen, auch das war in den vergangenen zwölf Tagen zu spüren, schränken die Möglichkeiten dessen, was das Kino eigentlich leisten könnte, zunehmend ein. Zumindest diesem Venedig-Jahrgang nach zu urteilen, wird der kreative Spielraum zwischen den zwei extremen Polen „Priscilla“ und Hamaguchis „Evil Does Not Exist“ geringer.

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