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Hilbig

© dpa

Wolfgang Hilbig: Wüste Kohlehalden

Vor einem Jahr starb der Dichter Wolfgang Hilbig. Nun erscheint der erste Band einer Werkausgabe.

Viele Jahre saß dieser Dichter an tellurischen Orten fest – tief unten in den Dunkelzonen von Kesselhäusern und den Restlöchern sächsischer Tagebaue. Niemand wollte in dem Tiefbauarbeiter und Heizer, den seine Vorgesetzten wegen mangelnder Arbeitsdisziplin rüffelten, einen Schriftsteller sehen. Wolfgang Hilbig quälte sich durch endlose Nachtschichten, um sich in aller Stille seiner großen Passion zu widmen – der Poesie.

In diesen Wüstungen der realsozialistischen Zwangsgesellschaft entstand das ungeheure Werk eines Autodidakten, dessen visionäre Kraft alles hinter sich lässt, was in den vergangenen dreißig Jahren an deutschsprachiger Lyrik geschrieben worden ist. Wolfgang Hilbig, der im Juni 2007 verstorbene Traumwandler aus Meuselwitz, war kein Lyriker in dem Sinne jener pflegeleichten Subjekte, die in unseren Literaturhäusern von einem Poesie-Event zum nächsten geschleust werden. Viel eher kann man ihn mit einem klassischen Sänger vergleichen, der noch einmal den hymnischen Tonfall seiner Vorbilder Rimbaud, Novalis und Hölderlin aufnahm und als „ungestalter gast aus dem schwarzen / und schimmernden landmeer“ die vergifteten Landschaften des Ostens beschwor. Der immer etwas ungelenk wirkende Bergarbeitersohn mit seinem sächsischen Dialekt fand sich im Literaturbetrieb nur schwer zurecht. Und doch haben die Gedichte dieses Mannes eine überwältigende Wucht, neben der sich ein Großteil der zeitgenössischen Produktion doch recht dürftig ausnimmt.

Als er 1968 in der „Neuen Deutschen Literatur“, der damaligen Zeitschrift des DDR-Schriftstellerverbands, eine Annonce aufgab, um einen Verlag für seine Gedichte zu suchen, hatte er schon einige Jahre lang unerhörte Texte in seinen Kesselhäusern geschrieben. Was damals entstand, galt lange als verschollen; Hilbig selbst hatte stets behauptet, seine frühen Gedichte habe er verbrannt.

Es ist ein großes Verdienst der jetzt von Jürgen Hosemann edierten Gesamtausgabe von Hilbigs Gedichten, dass sie über 150 Gedichte aus dem Nachlass erstmals zugänglich macht. Die frühesten Gedichte stammen aus einem Konvolut von 53 Gedichten, das Hilbig mit „Scherben für damals und jetzt“ betitelt hatte und das von der Stasi beschlagnahmt worden war. Diese Texte sind erst nach dem Zusammenbruch der DDR wieder in die Hände ihres Verfassers gelangt, der danach offenbar keine Versuche mehr unternahm, sie in seinem Hausverlag S. Fischer unterzubringen. Dabei ist in diesen frühen Hilbig-Poemen vieles präfiguriert, was in den ab 1979 veröffentlichten Gedichtbänden zum zentralen Topos wurde: die Beschwörung der Nacht und die Artikulation eines existenziellen Verlorenseins. Wer die Texte aus den Gedichtbänden „abwesenheit“ (1979), „die versprengung“ (1986) und „Bilder vom Erzählen“ (2001) vergleicht, kann sehr genau die aufschlussreichen Metamorphosen verfolgen, die Hilbigs Dichtung durchlaufen hat. In den um 1963/64 entstandenen Frühwerken dominiert noch ein zarter Lied-Ton, den Hilbig den Romantikern abgelauscht hat. In der stilistischen Maske Brentanos und Eichendorffs besingt der unbehauste Poet seinen Sehnsuchtsort, das Meer: „Von fern besing ich dich, o Meer, / zu deinen Füßen lagen einst die Nächte, / doch über ihnen schien silbern es daher, / wie wenn Gott ein Himmelslicht dir brächte. / Unten, im Schatten, trieb mein Boot. / Damals wußt’ ich noch keine Lieder, / doch dein Atem beschwor mich bis an den Tod, / nun will ich dich singen, wieder und wieder.“ Es dauerte nur wenige Jahre, bis Hilbig zu einer eigenen Stimme fand und seinen Gesang mit visionären Bildern und weit ausschwingenden Langzeilen bereicherte. Inspiriert von der trunken-surrealistischen Fantasie Rimbauds, verließ er das „düstere kesselhaus“ und entdeckte in einem seiner frühen Meisterwerke „das meer in sachsen“. Als ein „flaneur de la nuit“ beobachtet das lyrische Ich die „wassermühlen“ und gerät in den Mahlstrom der Bilder.

Am Gipfelpunkt von Hilbigs Dichtung steht schließlich das lange Poem „prosa meiner heimatstraße“, das bislang nur auszugsweise in Zeitschriften zu lesen war und nun in der Gesamtausgabe der Gedichte erstmals vollständig vorliegt. Es entstand in den Monaten des politischen Umbruchs in der DDR und kombiniert den Hymnenton Hölderlins mit grellen expressionistischen Bildern und ambivalent flackernden Befreiungs-Visionen. Dem „vaterland der asche“ und den „wüsten kohlehalden“ entkommen, richtet sich der Blick des Sängers auf die Umwälzung der trostlosen Verhältnisse. Das Fluten der bizarren Traumbilder und Phantasmagorien wird unterbrochen durch eine Rhapsodie zu Ehren der Revolution: „schön ist ein volk in waffenlosem aufruhr. schön ist die revolution der windhunde traumtänzer taschenspieler trickbetrüger und aller übrigen betrogenen...“

Im Leben des Dichters Wolfgang Hilbig blieb indes die Revolution der Verhältnisse aus. Nachdem er 1985 in den Westen gegangen war, geriet er auf einen langen Kreuzweg der Selbstzerstörung. Was wir mit dem Tod dieses visionären Einsiedlers verloren haben, erhellt nun der erste Band der Hilbig-Werkausgabe in großer Eindringlichkeit.

Wolfgang Hilbig: Werke. Band I: Gedichte. Mit einem Nachwort von Uwe Kolbe. Hrsg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. S. Fischer, Frankfurt/Main 2008. 540 S., 22.90 €. Am 4. 6., 20 Uhr, große Lesung aus Hilbigs Werken in der Literaturwerkstatt, u. a. mit Judith Hermann, Georg Klein und Lutz Seiler.

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