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Bundeskanzler Olaf Scholz.

© AFP / Jens Schlueter

Neue Drohungen Putins: Deutschland und seine Verbündeten stehen vor einem Dilemma

Die Kriegsdynamik der vergangenen Wochen bringt Paradoxes hervor: Je größer der Erfolg westlicher Hilfe, desto größer die Risiken, wie es weitergeht.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Erst die großen Hoffnungen, nun abgrundtiefe Ängste. Der Krieg stellt die Ukrainer, aber auch Deutsche und Europäer vor existenzielle Fragen. Wladimir Putin eskaliert, zieht 300.000 Reservisten ein, droht mit dem Einsatz von Atomwaffen, um den Westen von Waffenlieferungen an die Ukraine abzubringen.

Diese Hilfe hat dem angegriffenen Land die schnelle Rückeroberung besetzter Gebiete ermöglicht. Die Erfolge stärkten die Zuversicht, dass der Krieg auf ein Ende zusteuert, wie es das Gerechtigkeitsempfinden verlangt: Aggression darf nicht belohnt werden.

Doch nun folgt der Blick in den Abgrund. Ist die Freiheit der Ukraine den Menschen im Westen das Risiko wert, dass Putin zur Atombombe greift? Selbst wenn es nur eine „kleine“ Gefechtsfeldwaffe mit lokaler Wirkung in der Ukraine wäre: Droht dann, was Kanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden vermeiden wollen? Dass Nato-Länder in den Krieg hineingezogen werden. Und falls der Westen einknickt, weil Putin mit Atomwaffen droht, wo macht der dann halt: im Baltikum, in Polen, in Berlin?

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33 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs sind die Fragen zurück, die die Europäer nach 1945 lange gequält hatten. „Lieber rot als tot“: lieber sich einer Diktatur beugen, damals der Sowjetunion, heute Putin? Oder umgekehrt „lieber tot als rot“, weil man in so einer Welt nicht leben möchte? Und weil die Ankündigung entschiedener Gegenwehr den Aggressor von der Eskalation abbringen kann.

Im Kräfteverhältnis ist Putins Russland dem Westen noch dramatischer unterlegen, als es die Sowjetunion war. Warum soll Putin seinen Untergang riskieren, wenn er keine Aussicht auf Sieg hat?

Soldaten der russischen Nationalgarde.

© Foto: dpa/Uncredited

Die Abwägung zwischen „rot“ und „tot“ ist eine Zuspitzung. Sie verdeutlicht, was auf dem Spiel steht. Aber sie bildet nur die beiden Extreme eines breiten Spektrums von Handlungsmöglichkeiten ab.

Vor der Generalmobilmachung schreckt Putin zurück

Putin ist weder ein Selbstmörder noch ein irrationaler Hasardeur. Er wägt Kosten, Nutzen und Risiken ab. Er schreckt vor einer Generalmobilmachung zurück. Der Krieg ist in Russland nicht populär und die Mittelschicht nicht bereit, ihre Söhne zu opfern.

Die Einberufung von 300.000 Reservisten ändert an der ukrainischen Überlegenheit zunächst wenig. Es dauert Monate, sie einzuziehen, auszurüsten und an die Front zu bringen. Bis dahin kann die Ukraine weiter vorstoßen, wenn der Westen ihr hilft.

Auch bei den Referenden in besetzten Gebieten gibt es mehr als eine Lesart. Die beängstigende Interpretation: Ihr Anschluss an Russland ist der Vorwand für Putin, um den Einsatz aller Mittel vorzubereiten, die die Militärdoktrin zur Verteidigung des russischen Staatsgebiets erlaubt.

Ein Atomwaffen-Einsatz würde Putin den letzten Rückhalt rauben

Die andere Lesart: Moskau hat die Abstimmung wegen lokalen Widerstands immer wieder vertagt. Separatistenführer wollen sie rasch abhalten, weil sie fürchten, dass Putin sie im Stich lässt, und ihn so zwingen, zu ihnen zu stehen.

Der Einsatz einer Atomwaffe würde Putin den letzten Rückhalt rauben, den er hat. China, Indien und afrikanische Staaten, die derzeit noch – begrenztes – Verständnis für ihn zeigen, würden sich gegen ihn stellen.

Die Dynamik der vergangenen zwei Wochen klingt paradox: Je größer der Erfolg westlicher Hilfe, desto größer die Risiken, wie es weitergeht.

Deutschland und seine Verbündeten stehen vor einem Dilemma. Wie können sie der Ukraine weitere Erfolge ermöglichen, ohne die Risiken ins Unbeherrschbare zu steigern?

Kanzler Scholz ist wachsendem Druck bisher ausgewichen, indem er Entscheidungen vertagte, voran die Lieferung von Panzern. Er berief sich auf die Devise: keine Alleingänge! Auch wenn das bei den Panzern eine Ausrede war – sie weist den Weg. Die Deutschen sind mit ihren Ängsten nicht allein. Es hängt auch nicht von ihnen ab, was Putin tut oder unterlässt.

Wenn ihn etwas beeindruckt, dann ein entschlossenes und geschlossenes Auftreten des Westens. Kein Alleingang heißt deshalb auch: kein deutsches Nein zu weiterer Waffenhilfe, zum Beispiel auch gemeinsame Panzerlieferungen, wenn die USA und europäische Partner diese befürworten.

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