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Junge russische Rekruten im November 2017 auf dem Weg zum Militärdienst.

© dpa / Maxim Shipenkov

Update

Teilmobilisierung, Annexionspläne, Atomdrohung: So will Putin den Kriegsverlauf zu seinen Gunsten wenden

Der russische Präsident und sein Verteidigungsminister verkünden drastische Maßnahmen in der Ukraine-Strategie. Als Ziel gibt der Kremlchef erneut die „Befreiung“ des Donbass aus.

| Update:

Knapp sieben Monate nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine hat Russlands Präsident Wladimir Putin eine Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte angeordnet. Er habe diese Entscheidung nach einem Vorschlag des Verteidigungsministeriums getroffen und das Dekret unterschrieben, sagte der Kremlchef in einer Fernsehansprache.

Die Teilmobilisierung beginne noch an diesem Mittwoch. Damit will Putin auch Personalprobleme an der Front lösen. Die Teilmobilmachung bedeutet demnach, dass Reservisten eingezogen werden. Sie würden den gleichen Status und die gleiche Bezahlung bekommen wie die jetzigen Vertragssoldaten und sie würden auch vor dem Fronteinsatz noch einmal militärisch geschult, versicherte er.

Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu erklärte kurz darauf im russischen Fernsehen, dass 300.000 Reservisten für das Militär teilmobilisiert werden. Dies betreffe rund ein Prozent der Ressourcen von 25 Millionen Männern und gelte für Menschen mit militärischer Erfahrung, mit militärischen Spezialkenntnissen und Kampferfahrung. Experten bezweifeln allerdings, dass diese Kriterien tatsächlich auf 300.000 Menschen in Russland zutreffen.

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Für Wehrpflichtige und Studierende an Armee-Universitäten schloss Shoigu explizit aus, dass sie an die Front in der Ukraine geschickt würden. Sie würden nur zur Verteidigung Russlands eingesetzt.

Interessant: Putin hatte zuvor keine Zahl genannt. Sein Dekret spricht lediglich davon, dass jede Region Russland eine bestimmte Quote an Rekruten stellen müssen, wie der Russland Experte und Professor Sergey Radschenko auf Twitter erklärt. Der Hintergrund: Das würde erlauben vor allem in den abgelegen Provinzen Soldaten einzuziehen, weil sie höhere Quoten bekommen. Die Großstädte Moskau und St. Petersburg sollen möglichst verschont werden.

Radschenko interpretiert Putins Schritt als ein „Zeichen der Verzweiflung, das darauf hindeutet, dass Putins Macht wirklich in den letzten Zügen liegt. Wir werden wohl bald herausfinden, wie beliebt dieser Krieg in der russischen Öffentlichkeit wirklich ist.“

Am Mittwoch stiegen die Preise für Flüge ins Ausland rasant, viele Flüge waren schnell ausverkauft. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass viele Russen nun das Land verlassen wollen.

Auch zu den bisherigen Verlusten der eigenen Armee während des Kriegs in der Ukraine äußerte sich Schoigu. „Die Verluste Russlands belaufen sich auf 5937“, sagte er. Es ist das erste Mal seit Monaten, dass Russland offiziell Zahlen veröffentlicht.

Unabhängige Beobachter gehen allerdings von deutlichen höheren Verlusten Russlands aus. Das britische Verteidigungsministerium beziffert die kampfunfähig gemachten russischen Soldaten auf bis zu 80.000. Die Ukraine geht von rund 50.000 getöteten russischen Soldaten aus.

Schoigu machte ebenfalls Angaben zu Verlusten auf Seiten der Ukraine. So bezifferte er die Zahl getöteter ukrainischer Soldaten auf mehr als 60.000. Hinzu kämen fast 50.000 Verletzte, so dass die „Verluste“ insgesamt bei mehr 100.000 lägen, sagte Schoigu. Damit habe die Ukraine mehr als die Hälfte ihrer einstigen Streitkräfte, die anfangs aus mehr als 200.000 Menschen bestanden haben sollen, verloren, behauptete Schoigu.

Unabhängig überprüfen lassen sich auch diese Angaben nicht. Die Ukraine selbst hatte die Todesopfer in den eigenen Reihen Ende August auf annähernd 9000 Soldaten beziffert.

Warnung vor atomarer Eskalation

Es gehe darum russische Gebiete zu verteidigen, sagte Putin in seiner Rede weiter. Russlands Ziel sei es die ostukrainische Region Donbass zu befreien. Der Westen habe keinen Frieden zwischen der Ukraine und Russland gewollt, vielmehr wolle er Russland zerstören.

„Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht wird, werden wir zum Schutz Russlands und unseres Volkes unbedingt alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen. Das ist kein Bluff“, sagte Putin.

Zugleich warnte Putin vor einer „Erpressung“ Russlands mit Atomwaffen. „Diejenigen, die versuchen, uns mit Atomwaffen zu erpressen, sollten wissen, dass die Kompassrose sich in ihre Richtung drehen kann“, sagte Russlands Präsident.

„In unserer historischen Tradition, im Schicksal unserer Volkes liegt es, diejenigen zu stoppen, die nach der Weltherrschaft streben, die unserem Mutterland, unserer Heimat mit Zerstückelung und Unterdrückung drohen“, sagte Putin. Die Atomwaffen Russlands sind im Zuge des Krieges in der Ukraine in Kampfbereitschaft versetzt worden. Bisher gibt es aber laut US-Offiziellen keine Hinweise darauf, dass sie auch einsatzfähig gemacht werden.

Scheinreferenden sollen Annexion ukrainischer Gebiete rechtfertigen

In diesem Zusammenhang kündigte Putin die mögliche Annexion ukrainischer Regionen mithilfe der Scheinreferenden in den besetzten Gebieten an. „Die Entscheidung, die die Mehrheit der Bürger in den Volksrepubliken Luhansk und Donezk, in den Gebieten Cherson und Saporischschja treffen, unterstützen wir“, sagte Putin.

Neben den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ostukraine wollen auch die von Russland besetzten Gebiete Cherson und Saporischschja im Süden über einen Beitritt zu Russland abstimmen lassen. Die zeitgleichen Scheinreferenden sollen vom 23. bis 27. September abgehalten werden. Sie gelten als Reaktion auf die aktuelle ukrainische Gegenoffensive im Osten des Landes.

Auf ähnliche Weise annektierte Russland 2014 die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim. International wurde die Abstimmung nicht anerkannt. Auch diesmal ist eine Anerkennung nicht in Sicht. Der Westen reagierte mit Sanktionen. Allerdings hatte Russland stets betont, sich durch die Strafmaßnahmen der EU und der USA nicht von seinen Zielen in der Ukraine abbringen zu lassen.

Die russische Politologin Tatjana Stanowaja meint, dass Putin sich nach dem Scheitern seiner ursprünglichen Pläne, die Gebiete in der Ukraine rasch einzunehmen, zu den Beitrittsreferenden entschieden habe. Nach Aufnahme der Regionen habe er die Möglichkeit, die Territorien unter Androhung des Einsatzes von Atomwaffen zu verteidigen. Damit habe er seinen Einsatz in dem Krieg deutlich erhöht.

Die Separatisten in Donezk und Luhansk hatten angesichts des jüngsten ukrainischen Vormarsches gefordert, solche „Abstimmungen“ schnell anzusetzen.

Gelassene Reaktionen aus Kiew

Kiew reagierte gelassen auf die Ankündigung der Referenden und die Teilmobilmachung. Sie zeige nach Worten des ukrainischen Präsidentenberaters Mychailo Podoljak, dass der Krieg für Russland nicht nach Plan laufe. Der Schritt sei zu erwarten gewesen.

Die anderen Äußerungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin seien rhetorisch, sagt Podoljak der Nachrichtenagentur Reuters. Ziel sei es, den Westen für den Krieg und die sich verschlechternde Wirtschaftslage in Russland verantwortlich zu machen.

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Auf Twitter schrieb Podoljak: „Läuft immer noch alles nach Plan oder doch nicht?“ Der für „drei Tage“ geplante Krieg dauere bereits 210 Tage. Die Russen, die eine Vernichtung der Ukraine forderten, hätten nun unter anderem die Mobilmachung, geschlossene Grenzen, blockierte Konten und Gefängnisstrafen für Deserteure erhalten. „Das Leben hat einen wunderbaren Sinn für Humor“, schloss Podoljak.

Der Selenskyj-Berater Oleksij Arestowytsch erklärte in seinem täglichen Podcast, dass die „Erklärung über Referenden mit Hilfe nuklearer Erpressung“ keinen Druck auf die ukrainische Armee ausübe. Er weist darauf hin, dass Russland selbst nach dem Beschuss von russischem Gebiet durch die Ukraine keine Atomwaffen eingesetzt habe. „Auch wenn Atomwaffen eingesetzt werden, werden die ukrainischen Streitkräfte weiter kämpfen und die USA werden eingreifen“, glaubt Arestowytsch.

Russland hat seinen Einmarsch in der Ukraine am 24. Februar unter anderem mit der „Befreiung“ der Gebiete Donezk und Luhansk begründet. Zunächst konnte das russische Militär große Teile der Ost- und Südukraine erobern. Zuletzt allerdings musste der Kreml eine empfindliche Niederlage hinnehmen, die russischen Truppen zogen sich nach ukrainischen Angriffen fast völlig aus dem Gebiet Charkiw zurück.

Die Staatspropaganda warnte danach vor einer möglichen verheerenden Niederlage in dem Krieg. Dagegen betont die russische Militärführung immer wieder, dass alles nach Plan laufe und alle Ziele erreicht würden. (mit Agenturen)

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