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Optimistische Zukunft. Die Illustration veranschaulicht ein von Professor Jonathan Jeschke entwickeltes möglichen Szenario für den Umgang mit invasiven Arten – andere Versionen sind auch desaströs.

© Kris Tsenova / Paidia Consulting

Planspiele mit Aliens: Wie invasive Arten die ökologische Zukunft beeinflussen könnten

Ökologe Jonathan Jeschke entwickelt Szenarien für das Management von Neobiota, deren Auswirkungen sich spielerisch erproben lassen.

Von Catarina Pietschmann

Waschbären sind nicht nur charismatisch, sondern auch frech. Ein Jungtier hatte kürzlich in Berlin einen Bus bestiegen – ohne Ticket! – und wollte nicht freiwillig wieder heraus. Wa­rum auch: Das niedliche Pelztier, eigentlich in Nordamerika beheimatet, hat hierzulande keine natürlichen Feinde und muss Stadtmenschen nicht fürchten. Der Waschbär steht, neben 87 anderen Tier- und Pflanzenarten, auf der europäischen Liste invasiver Spezies von EU-weiter Bedeutung, die sich zunehmend ausbreiten.

„Diese Arten, die wir Neobiota nennen, sollten nicht mit denen verwechselt werden, die sich rein aufgrund des Klimawandels bei uns neu etablieren können. Invasiv bedeutet, dass sie absichtlich oder unabsichtlich eingeführt wurden und negative ökologische oder sozioökonomische Auswirkungen haben – zumindest ist das eine der gängigen Definitionen“, erklärt Jonathan Jeschke, Professor für Ecological Novelty an der Freien Universität Berlin und Leiter der Abteilung Evolutionäre und Integrative Ökologie am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Zusammen mit Sophia Kimmig und Wolf-Christian Saul schloss er kürzlich die beiden europäischen Projekte „InvasiBES“ und „AlienScenarios“ zu dem Thema ab, die national vom Bundesforschungsministerium gefördert wurden.

„Mit Kolleginnen und Kollegen aus Spanien, Frankreich, Kanada, Österreich, Deutschland und anderen Ländern haben wir erstmals Zukunftsszenarien für biologische Invasionen entwickelt. Auf globaler wie auch auf europäischer Ebene“, sagt Jonathan Jeschke. Dabei stehen die eingeschleppten Arten im Fokus, aber es flossen auch mögliche politische, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen ein – und wie sich das alles auf die Ausbreitung der Neobiota auswirkt. „Die Szenarien wurden auf zwei Hauptachsen angelegt – Umweltbewusstsein und technologische Entwicklung –, was uns zu vier möglichen Zukünften für Europa geführt hat.“

Die optimistischste Vision ist „Technological (Pseudo-)Panacea“, bei der die europäischen Staaten kooperieren, große technologische Fortschritte machen, diese Technik erfolgreich für Monitoring und Kontrolle der Neobiota einsetzen und einen „grünen“ urbanen Lebensstil pflegen. Dystopisch dagegen mutet „Lost (in) Europe“ an. Hier zerfällt die EU, und der Populismus wächst. Kommerz und Industrie prägen politisches Handeln und, in Ermangelung koordinierter Maßnahmen, breiten sich invasive Arten unkontrolliert aus.

Etwa 1,5 Millionen Waschbären leben heute in Deutschland – über 1000 davon in Berlin

Die Szenarien nutzten die Forschenden, um gemeinsam mit professionellen Spieleentwicklern ein Spiel für Fachleute zu entwerfen. Exemplarisch wurden dafür vier Spezies ausgewählt: Der Marmorkrebs, der sich seit Jahren in Berliner Gewässern breit macht, die Asiatische Hornisse, die Beifußblättrige Ambrosie und eben der Waschbär.

An ihm zeigt sich das ganze Dilemma der Neobiota: Aus wenigen Waschbären, die 1934 am hessischen Edersee ausgesetzt worden waren beziehungsweise 1945 aus Pelzfarmen in Brandenburg entkamen, entwickelte sich eine Population von schätzungsweise 1,5 Millionen Tieren, die inzwischen über ganz Deutschland verteilt ist und in die Nachbarländer überschwappt. Kein Wunder, denn die Weibchen bekommen im Schnitt vier Junge und nur Straßenverkehr, Infektionskrankheiten und Jäger können ihnen gefährlich werden.

Der Kleinbär ist ein räuberischer Allesfresser, plündert Mülltonnen und Futternäpfe, verputzt gern Amphibien und Sumpfschildkröten. Er steht zwar nicht unter Naturschutz, aber sein individuelles Tierwohl muss beachtet werden. Hinzu kommt, dass der Waschbär ein lauter, rüpelhafter „Mitbewohner“ auf Dachböden ist. Allein in Berlin gibt es wohl schon mehr als 1000 Exemplare.

Desaströse Zukunft. Ein weiteres von Professor Jonathan Jeschke entwickeltes möglichen Szenario für den Umgang mit invasiven Arten – andere Versionen sind optimistischer.
Desaströse Zukunft. Ein weiteres von Professor Jonathan Jeschke entwickeltes möglichen Szenario für den Umgang mit invasiven Arten – andere Versionen sind optimistischer.

© Kris Tsenova / Paidia Consulting

Im Spiel, das als Diskussionsbasis und Entscheidungshilfe für Expertinnen und Experten gedacht ist, übernimmt jeder Spieler die Positionen einer Interessengruppe: zum Beispiel des Tierschutzes, einer Umweltbehörde, von Jägern oder Hausbesitzern. Jeder und jede kann Maßnahmen für den Umgang mit den „Aliens“ vorschlagen. Sie werden zu Papier gebracht, über sie wird diskutiert und anschließend werden mehrheitsfähige Maßnahmen beschlossen. Perspektiven wechseln

Auf einer Karte Europas wird dann projiziert, wie sich diese in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren auswirken werden. „Die Ziele der Maßnahmen können unterschiedlich sein: die Population einzudämmen oder die Auswirkungen auf die Biodiversität oder den Menschen zu minimieren, ohne den Bestand der Spezies dabei zu verringern“, erklärt Jonathan Jeschke. Letzteres funktioniert beispielsweise, indem man Häuser „waschbärsicher“ macht.

Durch ein Spiel lässt sich diese Komplexität leichter vermitteln. Man erkennt, welche Auswirkungen die eigenen Entscheidungen in der Zukunft haben werden. Und dass wir nicht machtlos sind, sondern tatsächlich alle etwas bewegen können.

Jonathan Jeschke, Professor für Ecological Novelty an der Freien Universität Berlin und Leiter der Abteilung Evolutionäre und Integrative Ökologie am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei

Der besondere Charme des Spiels liegt für den Ökologen darin, dass die Fachleute ihre Perspektive wechseln können, indem sie in die Rolle eines anderen Interessenvertreters schlüpfen und dessen Argumente nachvollziehen können. „Das führt dazu, dass auch in der Realität mehr miteinander geredet wird“, sagt Jonathan Jeschke.

Ziel der zweiten Version, die als Brettspiel für die Öffentlichkeit konzipiert wurde, ist es, ein allgemeines Bewusstsein für die Problematik invasiver Arten zu schaffen. Auch dafür, dass es nicht immer einfache Lösungen gibt. Hier bekommen die Spieler die Argumente der Interessengruppen als Kartensatz in die Hand. Die Forschenden wollen das Brettspiel im Oktober bei der Messe „SPIEL ESSEN“ vorstellen.

Die Probleme, vor denen die Welt stehe, seien vielfältig, und erschwerend komme hinzu, dass sie zusammenhängen – so auch biologische Invasionen und Klimawandel, sagt Jonathan Jeschke. „Durch ein Spiel lässt sich diese Komplexität leichter vermitteln. Man erkennt, welche Auswirkungen die eigenen Entscheidungen in der Zukunft haben werden. Und dass wir nicht machtlos sind, sondern tatsächlich alle etwas bewegen können.“

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