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Ein Trümmerteil der Rakete

© Foto: Reuters

Eine Grenzüberschreitung: Welche Konsequenzen hat der Raketeneinschlag in Polen?

Erstmals wurde ein Nato-Land im Ukrainekrieg von einer Rakete getroffen. Wie gefährlich ist der Vorfall, und wie geht es jetzt weiter? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Zum ersten Mal seit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar hat der Krieg direkte tödliche Auswirkungen auf das Nachbarland Polen. Die Nachricht vom Einschlag einer Rakete auf polnischem Territorium schreckte am Dienstagabend die Teilnehmer des G20-Gipfels auf und ebenso Politiker in europäischen Hauptstädten.

In sozialen Medien wurde die Sorge laut, der Konflikt könne zu einem Krieg zwischen Russland und dem Westen eskalieren. Schließlich ist Polen ein Nato-Staat.

Experten hatten vor dieser Entwicklung immer wieder gewarnt. Wenn Russland seine Militäroperationen nicht auf das Kampfgebiet beschränke, sondern unbeteiligte Städte in der ganzen Ukraine angreife, um die Zivilbevölkerung zu demoralisieren, sei es eine Frage der Zeit, wann eine der nicht sehr zielgenauen russischen Raketen einmal jenseits der Grenze zum Nato-Gebiet einschlage.

Was ist bisher über den Vorfall bekannt?

Der kleine Ort Przewodów liegt nur sechs Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Am Dienstagnachmittag um 15.40 Uhr schlug dort eine Rakete ein, zwei Menschen wurden getötet.

Zu dem Zeitpunkt hatte Russland die Ukraine bereits über mehrere Stunden mit Raketen beschossen. Nach ukrainischen Angaben setzte die russische Armee am Dienstag mehr als 90 Raketen, Kampfdrohnen und Marschflugkörper ein – mehr als an jedem anderen Tag seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar.

„Das war kein Angriff auf Polen“, legt sich Präsident Andrzej Duda fest.
„Das war kein Angriff auf Polen“, legt sich Präsident Andrzej Duda fest.

© Foto: Pawel Supernak/PAP/dpa

Anfangs lag der Verdacht nahe, eine der russischen Raketen sei auf der polnischen Seite der Grenze eingeschlagen. Am Mittwoch stellte Polens Präsident Andrzej Duda klar: „Absolut nichts deutet darauf hin, dass dies ein absichtlicher Angriff auf Polen war. Höchstwahrscheinlich war dies eine Rakete, die in der Raketenabwehr benutzt wird, das heißt, dass sie von der ukrainischen Verteidigung eingesetzt wurde.“

Am Ort des Einschlags sollen Fragmente einer S-300-Rakete gefunden worden sein, wie sie die Ukraine zur Luftverteidigung verwendet. Wahrscheinlich sei eine ukrainische Flugabwehrrakete, die gegen russische Angriffe mit Marschflugkörpern eingesetzt wurde, die Ursache, sagte auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Welche Konsequenzen zieht Polen?

Die Regierung hatte zunächst erwogen, Beratungen nach Artikel 4 des Nordatlantik-Vertrages zu beantragen. Darin heißt es, dass die Vertragsparteien einander konsultieren, wenn „die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit“ eines Nato-Staates nach dessen Auffassung bedroht sind.

Zuletzt hatte es Konsultationen gemäß Artikel 4 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar gegeben. Damals hatten dies Polen und weitere Mitglieder beantragt.

Am Mittwoch verzichtete Warschau auf den formalen Schritt, als klar wurde, dass eine ukrainische Abwehrrakete in Polen eingeschlagen war. Da hatte sich die Allianz freilich bereits zu Sondersitzungen getroffen.

Polnische Politiker und Experten fordern, der Westen solle nicht nur die Reaktion auf den aktuellen Fall besprechen, sondern debattieren, wie sich der vermehrte russische Raketenbeschuss des gesamten ukrainischen Staatsgebiets, darunter der Grenzregion, stoppen lasse.

Piotr Buras leitet das Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR) in Warschau.
Piotr Buras leitet das Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR) in Warschau.

© ECFR

„Man darf diesen Fall nicht kleinreden“, sagt Piotr Buras vom European Council on Foreign Relations (ECFR). „Auf Nato-Gebiet sind zwei Menschen gestorben. Sie sind Opfer eines von Russland geführten Kriegs.“

Die Nato solle beraten, ob sie ihre Luftverteidigung verstärken müsse, um „russische Raketen, die auf Nato-Gebiet zufliegen, im ukrainischen Luftraum zerstören zu können“.

Wie groß ist die Eskalationsgefahr?

Die Nato-Partner haben sich zugesichert, einander im Fall eines Angriffs beizustehen. Dies ist jedoch kein Automatismus, durch den Deutschland in den Krieg hineingezogen würde.

In Artikel 5 haben sich die Nato-Staaten im Fall eines „bewaffneten Angriffs“ auf einen Partner verpflichtet, dies als Angriff auf alle zu betrachten und dem betroffenen Land Beistand zu leisten. Allerdings kann dann jeder Nato-Staat selbst entscheiden, welche Maßnahmen er „für erforderlich erachtet“, um die Sicherheit des Bündnisses wiederherzustellen.

Hat die Ukraine den Vorfall inszeniert?

In den sozialen Netzwerken kursieren Gerüchte, die Ukraine habe den Vorfall inszeniert, um die Nato zum Kriegseintritt zu bewegen.„Das sind weit hergeholte Verschwörungstheorien“, sagt Ben Hodges, der frühere Befehlshaber der US-Armee in Europa.

Ben Hodges war Kommandeur der US-Armee in Europa und ist ein gefragter Militärexperte in deutschen Talkshows.
Ben Hodges war Kommandeur der US-Armee in Europa und ist ein gefragter Militärexperte in deutschen Talkshows.

© Imago/Eventpress/Stauffenberg

„Es gibt wohl ein paar Deutsche, die die Ukraine schon immer für korrupt und keiner Unterstützung würdig gehalten haben. Zum Glück ist das aber nur ein kleiner Teil der Gesellschaft“ analysiert Hodges. „Die Ukraine weiß, dass sie von westlicher Hilfe abhängig ist. Ein solches Komplott käme unweigerlich ans Licht und würde die Hilfsbereitschaft unterminieren. Deshalb haben solche Gerüchte für mich null Glaubwürdigkeit. “

Wie kann die Ukraine die Luftangriffe stoppen?

Am Dienstag gab es mehr Raketenangriffe auf die Ukraine als je zuvor seit Februar. Was kann Kiew dagegen tun?

„Die Ukraine hat nach meiner Vermutung bereits Pläne, wie sie russische Angriffe auf das Stromnetz beantwortet“, sagt der frühere US-General. „Entweder setzt sie umgekehrt Teile des russischen Stromnetzes außer Kraft oder sie unterbricht den Nachschub an Treibstoffen.“ Dafür gebe es aber keine öffentlichen Beweise.

Noch wichtiger sei es jedoch für die ukrainische Armee, die militärische Logistik der Russen zu unterbrechen, Munitionslager zu zerstören und ihre beiden Hauptnachschublinien zu blockieren.“ Das sei, erstens, die Brücke von Kertsch. die Russland mit der Krim verbindet und die vor wenigen Wochen schwer beschädigt wurde. Nach Einschätzung britischer Dienste werde sie frühestens nächsten September wieder volle Kapazität haben. Zweitens gehe es um „die Landbrücke, die von Rostow entlang dem Asowschen Meer über Mariupol und Melitopol zur Krim führt“, erläutert der ehemalige US-General.

Wenn die konzentrierten Angriffe auf die russische Logistik Erfolge haben, „wird das die Artilleriemunition der Russen und ihre Angriffsmöglichkeiten reduzieren“, prognostiziert Hodges. Parallel werde die Fähigkeit der frisch mobilisierten, schlecht ausgebildeten und undisziplinierten russischen Soldaten sinken, der kalten, nassen Witterung zu trotzen. „Sie operieren weitgehend ohne Heizung, Winterkleidung und warme Schutzbauten im Raum zwischen Dnipro und der Krim.“

Wie können Nato-Staaten helfen?

Deutschland hat Polen in einer ersten Reaktion Hilfe bei der Überwachung des Luftraums angeboten. Dies könne bereits am Donnerstag erfolgen, falls Polen das wünsche. Deutsche Eurofighter würden dann von deutschen Stützpunkten aus Patrouillen-Flüge unternehmen.

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