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Katharina Kracht, Vertreterin der Betroffenen und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes, spricht bei einer Pressekonferenz zum Ergebnis der Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche.

© dpa/Julian Stratenschulte

Missbrauchs-Aufarbeitung in der EKD: „Was macht man, wenn Täter übergriffig werden?“

In der evangelischen Kirche wird nach der Vorstellung der „ForuM“-Studie weiter über sexualisierte Gewalt diskutiert. Die unabhängige Untersuchungskommission fordert aber konkrete Maßnahmen.

Im großen Saal des Seglerheims von Ratzeburg herrscht Ruhe. 90 Jugendliche aus der evangelischen Propstei Wismar in Mecklenburg-Vorpommern haben sich hier versammelt, um ihre Ausbildung zum ehrenamtlichen Jugendleiter zu absolvieren. Vor ihnen sitzen die amtierende Ratsvorsitzende der EKD, Kirsten Fehrs, und Rainer Kluck, der Präventionsbeauftragte der Nordkirche. Denn die Jugendlichen haben sich gewünscht, im Rahmen ihrer Ausbildung über den Umgang der evangelischen Kirche mit sexuellem Missbrauch zu sprechen.

Vor zwei Wochen hatten Wissenschaftler um den Hannoveraner Sozialpädagogen Martin Wazlawik die erste bundesweite Studie zum Umgang der Protestanten mit sexuellem Missbrauch an die EKD übergeben. Die Ergebnisse der „ForuM“-Studie, an der auch zahlreiche Betroffene als sogenannte Co-Forschende mitgearbeitet haben, waren verheerend.

Mindestens 1259 Beschuldigte und mindestens 2225 Betroffene sexuellen Missbrauchs stellte die Studie in der Kirche fest. Eine Hochrechnung kam – freilich auf zweifelhafter Datenbasis – sogar auf bis zu 10.000 Betroffene.

Die Spitze der Spitze des Eisbergs

Die Forscher sprachen von der „Spitze der Spitze des Eisbergs“ und attestierten der EKD, nicht hinreichend an der Erstellung der Studie mitgearbeitet zu haben: Akten wurden nicht zugänglich gemacht, der ursprüngliche Plan einer repräsentativen Stichprobe der kirchlichen Personalakten scheiterte. Und sie nannten eine Reihe von Dingen, die speziell in der evangelischen Kirche den sexuellen Missbrauch begünstigten: fehlendes Interesse an Aufarbeitung, unklare Verantwortlichkeiten und ein überzogenes Harmoniebedürfnis.

„Was macht man, wenn Täter übergriffig werden – schließt man sie aus?“, fragt die 16-jährige Noemi bei der Jugendleiterschulung in Ratzeburg. „Es vertritt ja den Glauben der Kirche, dass man vergibt?“ Eine bessere Frage hätte sie kaum stellen können: Denn sie brachte genau auf den Punkt, was eines der größten Probleme bei der Missbrauchsaufarbeitung in der Evangelischen Kirche war. Zu oft wurde die Versöhnung mit dem Täter in den Mittelpunkt gestellt. Zu oft gerieten die Betroffenen aus dem Blick.

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„Wir können nur hoffen und beten, dass wir mittlerweile alle so sensibilisiert sind, dass man den Betroffenen auch glaubt“, sagt Fehrs in der Diskussion. „Denn das ist für viele das Schlimmste gewesen: dass ihnen bei uns nicht geglaubt wurde.“ Künftig müssten bei der Aufarbeitung Betroffene im Mittelpunkt stehen. Auf Täter hingegen müsse man mit den Mitteln des Rechtsstaats reagieren.

Doch noch in der vergangenen Woche zweifelten der bayerische Landesbischof Christian Kopp und seine Synodalpräsidentin Annektahrin Preidel die Arbeit der Forscher öffentlich an. Da überrascht es nicht, dass die Unabhängige Kommission für die Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs weiter deutlich Konsequenzen fordert: Am Dienstag würdigte das Gremium zwar die Arbeit des EKD-Beteiligungsforums, in dem sich Betroffene zusammen mit Kirchenvertretern um die Aufarbeitung kümmern.

Es forderte aber auch eine „kirchenunabhängige Vernetzung und Selbstorganisation“ von Betroffenen, um auch jene zu erreichen, die keinen Kontakt zur Institution Kirche mehr haben wollen. Daneben müsse die EKD einheitliche Aufarbeitungsstandards für alle evangelischen Träger und Einrichtungen schaffen. In den Kirchen müsse ein „Recht auf Aufarbeitung“ festgeschrieben werden.

Personalakten-Frage weiter ungeklärt

Betroffene sollten Anerkennungsleistungen in einer Höhe erhalten, die sich an der vom Kölner Missbrauchsbetroffenen Georg Menne erstrittenen Zahlung von 300.000 Euro orientieren. Und regionale, unabhängige Aufarbeitungskommissionen sollten klären, wie die bislang nicht erfolgte Auswertung von Personalakten vorgenommen werden kann.

Der Rat der EKD, die 20 Landeskirchen und die Diakonie erklären unterdessen erneut, Verantwortung übernehmen zu wollen. Mitte Februar werde das Beteiligungsforum zusammen mit den Forschenden die Ergebnisse und Empfehlungen der Studie erstmals beraten.

Im Beteiligungsforum, in den Landessynoden und vor Ort in den Kirchenkreisen und Gemeinden werde man sich mit den Ergebnissen der ForuM-Studie und ihrer Bedeutung Kirche und Diakonie „transparent und offen auseinandersetzen“. Für die EKD solle ein Maßnahmenplan entwickelt werden. „Wir verpflichten uns zu einheitlichen Standards der Prävention und Transparenz, einheitlichen Anerkennungsverfahren und einem einheitlichen Prozess der weiteren Aufarbeitung sexualisierter Gewalt.“

Und was passiert in Berlin und Brandenburg? „Wir haben dazu aufgerufen, dass in den Gemeinden, Konventen, Synoden und auch Bildungseinrichtungen unserer Kirche eine Befassung mit den Ergebnissen der ForuM-Studie und ihrer Bedeutung für unsere Kirche, auch mit externer fachlicher Unterstützung, erfolgt“, sagt die Konsistorialpräsidentin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Viola Vogel.

Eine Unabhängige Regionale Aufarbeitungskommission soll eingerichtet werden. „Von sexualisierter Gewalt Betroffene werden aktiv in die Kommission einbezogen“, sagte Vogel. Dazu werde ein Betroffenenforum vorbereitet, bei dem man eng mit der Nordkirche kooperiere. „Weitere detaillierte Schritte der Professionalisierung der Präventions- und Interventionsarbeit sollen der Synode spätestens im Herbst 2024 vorgelegt werden.“

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