zum Hauptinhalt
Ohne Tarifvertrag arbeitet rund die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland.

© dpa/Bodo Marks

Schwächephase zum 75. Geburtstag: Politik und Sozialpartner feiern das Tarifvertragsgesetz, doch die Bedeutung schrumpft

Älter als das Grundgesetz und Grundpfeiler des Lohnsystems: Im April 1949 wurde das Tarifvertragsgesetz beschlossen. Es hat sich bewährt, doch die Tarifbindung nimmt ab.

Mit warmen Worten wird der schwächelnde Jubilar gefeiert. Und wie immer, wenn ein höheres Alter zu würdigen ist, fällt die Rückschau leichter als der Blick nach vorn. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sowie die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi nutzen am 23. April den 75. Geburtstag des Tarifvertragsgesetzes, um die Sozialpartnerschaft als einen Grundpfeiler des deutschen Systems hervorzuheben. Über eine Stärkung des kränkelnden Systems streiten sich derweil die Ampel-Parteien.

Im April 1949 wurde das Tarifvertragsgesetz verabschiedet, einen Monat später folgte mit Artikel 9 Absatz 3 im Grundgesetz die Koalitionsfreiheit. Damit war der Rechtsrahmen gesetzt für die Tarifautonomie. Auf Grundlage des Tarifvertragsgesetzes schließen Gewerkschaften und Arbeitgebern jedes Jahr rund 6000 Tarifverträge.

Für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen ist das Gesetz von herausragender, aber schrumpfender Bedeutung: Nur noch knapp die Hälfte der Beschäftigten fallen unter den Schutz eines Tarifvertrages. Das hochgelobte deutsche Tarifsystem „befindet sich in einer anhaltenden Krise“, konstatiert die Böckler-Stiftung des DGB.

„Samstags gehört Vati mir“

„Das Gesetz war das Ergebnis langer Verhandlungen zwischen der Militär-Administration der Besatzungsmächte, der Arbeitsverwaltung sowie den nach 1945 neu gegründeten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden“, schreibt das wissenschaftliche Institut der gewerkschaftlichen Böckler-Stiftung (WSI) in einer Studie zum 75. Geburtstag. Eine Gelegenheit, um an tarifpolitische Höhen und Tiefen zu erinnern.

In den 1950er Jahren waren die Gewerkschaften selbstbewusst genug, um im westdeutschen Wirtschaftswunderland Einkommenserhöhungen durchzusetzen, für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu streiken und die Fünf-Tage-Woche („Samstags gehört Vati mir“) einzuführen.

Konjunktur- und Ölpreiskrise prägten in den 1960er und 1970er Jahre die Tarifpolitik, die sich nun nicht mehr nur mit Geld und Arbeitszeit, sondern zunehmend auch mit Arbeitsschutz und der „Humanisierung der Arbeit“ befasste.

In den 1980er Jahren machte sich die IG Metall auf den Weg zur 35-Stunden-Woche, die Mitte der 1990er im Westen erreicht wurde; in Ostdeutschland übrigens erst gegen Ende dieses Jahrzehnts.

Nach der Vereinigung und der Rezession 1992/93 folgten die neoliberalen Jahre mit Globalisierung, Privatisierung und Deregulierung. Politiker und Arbeitgeber schimpften über das „Tarifkartell“ und forderten das Ende des Flächen- oder Branchentarifvertrags. „Die Erosion des Tarifvertragssystem (rückläufige Tarifbindung, tarifwidriges Verhalten) trat deutlich zutage“, erinnert die Böckler-Stiftung.

Mindestlohn als Symbol der Schwäche

Die Arbeitsmarktpolitik der Schröder-Regierung forcierte in der zweiten Hälfte der Nullerjahre einen Niedriglohnsektor mit Millionen prekärer Arbeitsverhältnisse. Gleichzeitig verloren die Gewerkschaften ebenso wie die Tarifträgerverbände der Arbeitgeber Jahr um Jahr Mitglieder, sodass für viele Branchen und Unternehmen keine Tarifverträge abgeschlossen werden konnten, weil es schlicht keine tariffähigen Verhandlungspartner gab.

Aufgrund der Schwäche des Tarifsystems erkannte schließlich auch die Union unter Angela Merkel die Notwendigkeit eines gesetzlichen Mindestlohns, der 2015 mit 8,50 Euro von der großen Koalition eingeführt wurde. Inzwischen liegt die Lohnuntergrenze bei 12,41 Euro.

Nach Coronajahren und enormen Preissteigerungen 2022/23 haben die Gewerkschaften in den vergangenen Monaten Einkommenserhöhungen von mehreren hundert Euro im Monat durchsetzen können. Die Mitgliederzahlen der acht DGB-Gewerkschaften haben sich stabilisiert. Doch die Tarifbindung ist unverändert schwach, sodass Gewerkschaften die Politik zum Eingreifen rufen.

„Deutschland zählt zur Gruppe der europäischen Länder, für die mittlerweile auch die EU-Kommission Aktionspläne zur Stärkung des Tarifsystems fordert“, schreibt das WSI. Hierzu gehöre „die konsequente Koppelung öffentlicher Aufträge und Fördergelder an die Einhaltung von Tarifstandards als auch die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung“, meint die gewerkschaftliche Böckler-Stiftung.  

45
Prozent arbeiten in Ostdeutschland mit Tarifvertrag

1998 waren in Westdeutschland 76 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden, inzwischen sind das nur noch gut 50 Prozent; in Ostdeutschland fiel die Zahl von 63 auf 45 Prozent. Mit Folgen für die Arbeitsbedingungen. Im Schnitt verdienen Beschäftigte mit Tarifvertrag bei gleicher Beschäftigung zwölf Prozent mehr als Arbeitnehmer ohne Tarifvertrag, hat der DGB ausgerechnet. Arbeitsminister Heil kommt sogar auf 18 Prozent

Die Landesvergabegesetze einiger Bundesländer machen die Vergabe eines öffentlichen Auftrags von der Einhaltung bestimmter tarifvertraglicher Standards abhängig. Für die Vergaben des Bundes gibt es bislang keine entsprechenden Vorgaben. Das will die Ampel ändern. „Zur Stärkung der Tarifbindung wird die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrages der jeweiligen Branche gebunden“, heißt es im Koalitionsvertrag.

Arbeitsminister Heil hat für „dieses Frühjahr“ ein Gesetz angekündigt. „Wir wollen, dass öffentliche Aufträge des Bundes nur noch an Unternehmen gehen, die nach Tarif bezahlen“, sagt der SPD-Politiker, und weiß den grünen Koalitionspartner an seiner Seite. Mit der FDP ist das wieder schwierig, wenn es ins Detail geht. Bislang war ein Schwellenwert von 10.000 Euro im Gespräch: Wenn ein Unternehmen einen Auftrag des Bundes über mehr als 10.000 Euro bekommt, muss es nachweisen, dass es seine Belegschaft nach dem einschlägigen Tarifvertrag bezahlt.

Für die Arbeitgeber und die FDP liegt die Schwelle viel zu niedrig, sie wollen mindestens 50.000 Euro. In dem Fall, so befürchten SPD und DGB, wäre das Gesetz ziemlich wirkungslos.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false