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Drink & Draw: Das Comic-Museum in Brüssel lebt eine lebendige Comic-Kultur.

© Leticia Sere

Zu Besuch bei Belgiens lebendiger Comic-Szene: Wo die Stifte niemals ruhen

Zwei Zeichnerinnen aus Brüssel geben Einblick in die Welt der sprechenden Bilder. Einiges davon kann man bald auch auf der Leipziger Buchmesse sehen.

Von Ines Maria Eckermann

„Mit Comics kann man Kitsch, aber auch große Kunst machen“, sagt Judith Vanistendael. Sie hat ein Buch über einen Freund geschrieben und gezeichnet, der an Kehlkopfkrebs erkrankte, über Liebe und ein farbenfrohes Buch im Riso-Druck für Babys. „Zu sagen, dass Comics Popkultur sind und deshalb nicht zur Hochkultur gehören oder keine Kunst sind, das ist eine ganz alte Denkweise – eine Denkweise, die in Belgien und Frankreich vor Jahrzehnten abgelegt wurde“, erklärt die Künstlerin in ihrem Atelier, das sie sich mit anderen Künstlern und einer Modedesignerin teilt.

Vanistendael ist eine der bekanntesten flämischen Comic-Künstlerinnen und eine Verfechterin der sprechenden Bilder. Ein Jahr lang studierte sie Kunst in Berlin. „Aber ich wusste damals überhaupt nicht, was ich dort mit mir anfangen sollte.“ Verlangt war Abstraktes, verkopfte, konzeptuelle Kunst. Vanistendael wollte jedoch die Geschichte und die Kunst und nicht den Künstler in den Mittelpunkt stellen.

Belgien ist künstlerisch sehr breit aufgestellt. Es gibt viele Stile – und der Surrealismus ist auch nie weit.

 Judith Vanistendael

Als sie die Welt des Comics entdeckte, änderte sich für sie alles. Seither arbeitet sie mit ihrem Zeichenstift wie mit einem Skalpell die Emotionen aus ihren Geschichten heraus, legt sie bloß und präsentiert sie roh und voller Wärme.

Mehrere Bücher von Judith Vanistendael wurden in den vergangenen Jahren auch ins Deutsch übersetzt.
Mehrere Bücher von Judith Vanistendael wurden in den vergangenen Jahren auch ins Deutsch übersetzt.

© Ines Maria Eckermann

„Belgien ist künstlerisch sehr breit aufgestellt. Es gibt viele Stile – und der Surrealismus ist auch nie weit“, sagt Vanistendael. „Die Szene ist gar nicht prätentiös, das mag ich sehr. Das ist sehr inspirierend.“

In größeren Städten wie Antwerpen oder Brüssel sind Comics allgegenwärtig: Viele Cafés haben ihre eigenen Illustrationen an den Wänden, auf ihren Bechern und Kaffeeverpackungen, Parks sind nach beliebten Comic-Figuren benannt und sogar die Fassaden von Polizeiwachen sind bevölkert von wild umherhüpfenden Marsupilamis. Deshalb ist der Einstieg ins Comic-Zeichnen in Belgien so einfach wie nirgends: Wer weiß, wo sich zeichenbegeisterte Menschen treffen, ist bereits mittendrin.

Einer dieser Orte ist „Grafik“ in Brüssel: Die Illustratorin Leticia Sere betreibt die Galerie, die zugleich auch ein Buchladen und ein Ort des Miteinanders ist. Während Illustratoren meist ein einsames Berufsleben an ihren angeschrägten Zeichentischen führen, bringt Sere Kreative aus aller Welt an einen Tisch. Und dieser kann schon mal sehr lang werden: Manchmal kommen über hundert Profi- und Hobby Künstler zu ihren Events.

Illustratoren sind oft eher introvertiert, aber hier tauen sie auf.

Leticia Sere über die von ihr organisierten Drink-and-Draw-Zeichenabende

Drink & Draw nennen sich die Abende, bei denen Sere nach internationalem Vorbild Menschen zum Trinken, Reden und vor allem zum Zeichnen einlädt. Der Eintritt ist frei und es gibt Getränke, die gelegentlich einem spontanen Anbau an den Tisch zum Opfer fallen, wenn neue Gäste sich dazugesellen.

„Illustratoren sind oft eher introvertiert, aber hier tauen sie auf“, sagt Sere und legt ein Bündel Filzstifte in der Mitte des Tisches ab. Etwa dreißig überwiegend junge Menschen beugen sich über weiße Blätter und zeichnen, was Sere vorgeschlagen hat: Zeichne eine Zeitleiste deines Lebens mit Höhepunkten, lustigen Misserfolgen und deiner bestmöglichen Zukunft.

Passende Umgebung: Die von der Illustratorin Leticia Sere organisierten Drink-and-Draw-Events finden gelegentlich auch im Comic-Museum in Brüssel statt.
Passende Umgebung: Die von der Illustratorin Leticia Sere organisierten Drink-and-Draw-Events finden gelegentlich auch im Comic-Museum in Brüssel statt.

© Leticia Sere

Angst vor dem weißen Blatt hat hier niemand, die Ideen sprudeln geradezu aufs Papier. Seit etwa fünf Jahren lädt Sere einmal im Monat einen Illustratoren-Kollegen ein, der mit ihr die Zeichenspiele anleitet: Zeichne die Gesichtsform deines Gegenübers und die Gesichtszüge des Menschen daneben. Oder: Wie sieht ein Neujahrsvorsatz aus, der schon am ersten Januar gescheitert ist?

„Grafik“ ist ein Buchladen für Comics und Illustrierte Bücher und zugleich auch eine kleine Galerie.
„Grafik“ ist ein Buchladen für Comics und Illustrierte Bücher und zugleich auch eine kleine Galerie.

© Leticia Sere

Mal zeichnet jeder auf seinem eigenen Blatt, mal entstehen die Werke in Zusammenarbeit mit den Tischnachbarn. „Das schönste Ergebnis hatten wir, als wir bei einem Drink & Draw eine große Bahn Papier auf den Tisch geklebt und alle gemeinsam an einem gemeinsamen Bild gezeichnet haben. Mit verschiedenen Stilen, verschiedenen Niveaus, mit professionellen Illustratoren und absoluten Anfängern“, sagt Sere. „Das hat sich alles total gut verbunden – und es hat eine tolle Patchwork-Zeichnung ergeben.“

Seres Events sind stets sehr international. Brüssel ist so nicht nur die belgische und die flämische Hauptstadt, sondern auch das Zentrum der Comic-Kunst. „Alle Menschen sind beim Drink & Draw willkommen, egal woher, egal welche Sprache sie sprechen“, sagt Sere. Irgendeine gemeinsame Sprache findet sich immer. Und so unterhält sich die Gruppe auf Französisch und Niederländisch, Deutsch, Spanisch und Englisch. Die Chemie unter den Teilnehmenden scheint jedenfalls zu stimmen, können sie sich doch bereits auf eine gemeinsame Leidenschaft einige: die Liebe zum Comic.

Auf die Blätter, fertig, los! Ein Drink-and-Draw-Treffen unter freiem Himmel.
Auf die Blätter, fertig, los! Ein Drink-and-Draw-Treffen unter freiem Himmel.

© Leticia Sere

Die Nachfrage nach Zeichenunterricht und -events steigt stetig. Sere bietet allen Zeichenwilligen regelmäßig eine Anlaufstelle, gibt Kurse im Riso-Druck oder veranstaltet Partys, bei denen gezeichnet wird. Dabei geht es vor allem um humorvolle Zeichnungen und Comics.

Ein Blick in Judith Vanistendaels neues Buch „Atan von den Kykladen“.
Ein Blick in Judith Vanistendaels neues Buch „Atan von den Kykladen“.

© Ines Maria Eckermann

Andere Galerien vermitteln dagegen erstmal die Grundlagen für angehende Künstler: Unter den Titeln Art & Wine oder Art’n’Joy finden mal in Brüssel, mal in Antwerpen klassischen Zeichenkurse in entspannter Atmosphäre statt. Wer lieber bruncht statt trinkt, kann beim „Palazzo Creative Workspace“ in Brüssel um Mittag herum ein Aktmodell zeichnen. Und in einem stockdunklen Raum im „The Sister Brussels Café“ können die Teilnehmenden mit fluoreszierender Farbe ungewöhnliche Kunstwerke erschaffen.

Doch natürlich bietet Belgien auch etwas für all jene, die Comics lieben, ohne sie selbst herstellen zu wollen: Die Dichte an Comic-Buchläden sucht ihresgleichen. So stellen in Seres Buchladen-Galerie „Grafik“ immer wieder internationale Künstler wie Henning Wagenbreth oder ATAK aus und der in Berlin lebende flämische Comic-Autor Olivier Schrauwen signierte seine Bücher für die in Scharen herbeigeströmten Fans.

Zudem gewährt das Comic-Museum in Brüssel einen Blick in die Entstehungsprozesse von Tim und Struppi, der Schlümpfe und anderer beliebter Comics. Und jedes Jahr im Februar feiert Belgien „Anima“ – ein internationales Festival für Animationsfilme. Zwar bleibt Brüssel das Epizentrum von Anima, doch für zehn Tage laufen in vielen Spielstätten in ganz Belgien ausgewählte Animationsfilme.

Die Comic-Szene blüht. Auch deshalb ist Flandern, der niederländisch-sprachige Teil Belgiens, in diesem Jahr eine der Gastregionen auf der Leipziger Buchmesse. Judith Vanistendael präsentiert dort ihr neues Werk „Atan von den Kykladen“: Ein Buch, das die Geschichte eines Jungen erzählt, der seinen Platz in der Welt der Kunst erst noch finden muss.

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