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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beim Interview mit Linda Zervakis auf der re:publica am 9. Juni 2022.

© dpa/Annette Riedl

Willkommen zur Scholz-Show: Das Kanzler-Interview mit Zervakis war Betrug

Das Kanzleramt hat TV-Moderatorin Linda Zervakis eingespannt, um Staats-PR als Journalismus zu verkaufen. Das kostet Glaubwürdigkeit – vor allem, weil die Regierung das normal findet

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Nachdem die Ex-„Tagesschau“-Sprecherin Linda Zervakis Kanzler Olaf Scholz auf der „re:publica 2022“ interviewt hatte, gab sie selbst ein Interview.

Der Kanzler, erzählte sie, sei eigentlich ein humorvoller Typ, der öffentlich nur deshalb so kontrolliert auftrete, weil das Internetvolk sonst jeden Satz aus dem Zusammenhang reiße. Sie sei schon stolz, einige Lacher aus ihm herausgeholt zu haben.

„Kontrolliert“ ist das richtige Stichwort. Wie sich herausstellt, hatte Scholz mehr Kontrolle bei dem Gespräch zur digitalen Zukunft des Landes, als äußerlich wahrzunehmen war.

Trifft zu, was die „tageszeitung“ recherchiert hat, hat das Kanzleramt die Moderatorin ausgesucht, sie beauftragt und den Kanzler-Auftritt am 9. Juni 2022 mit ihr abgestimmt. Womöglich auch die Fragen. Und sogar die Lacher.

Zervakis hatte sich unter anderem mit dem „Triell“ vor der letzten Bundestagswahl als politische Moderatorin profiliert. Scholz muss das gefallen haben.

Ob die Frau ein Honorar erhielt oder bloß eine Kostenpauschale, ist zweitrangig. Zervakis wäre vermutlich auch ohne Geld zur Stelle gewesen. Ein Gespräch mit dem Regierungschef adelt jeden Journalisten. Und seinen Arbeitgeber, weshalb der Sender Pro Sieben an dem Vorgang keinen Anstoß nimmt.

Problematisch ist – milde gesagt – der Eindruck, den das Arrangement erweckt hat – und wohl auch erwecken sollte.

Eine Regierung hat die Pflicht, Wahrheit zu kommunizieren. Das Kanzler-Gespräch war keine Wahrheit.

Jost Müller-Neuhof

Es sah aus, als sei Zervakis in ihrer Rolle als Journalistin zum Digitalkongress gebeten worden. Dabei war sie Scholz’ Gehilfin, in amtlichem Auftrag. Keine Spur von Unabhängigkeit. Der Staat sprach mit sich selbst. Regierungs-PR, die als journalistische Fragestunde verkleidet wurde.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Linda Zervakis auf der re:publica 2022.

© dpa/Annette Riedl

Für Zervakis und die „re:publica“-Veranstalter ist peinlich, dass sie das mitmachten, ohne über die Verhältnisse aufzuklären.

Bei der staatlichen Seite ist es schlimmer. Eine Regierung hat die Pflicht, Wahrheit zu kommunizieren. Das Kanzler-Gespräch war keine Wahrheit. Es war Betrug.

Das Kanzleramt scheint daran nichts zu finden. Es gibt auch überraschend wenig öffentliche Skepsis.

Das könnte daran liegen, dass die Kontrolle, die dem Kanzleramt auf der „re:publica 2022“ so wichtig war, auch bei anderen Auftritten vor und mit den Medien wichtig ist. Dass etwas von der teuren Unabhängigkeit möglicherweise aufgegeben wird, wenn Spitzen der Regierung ihr Geschäft mit der Öffentlichkeit betreiben. Und dass viele, auch viele Journalisten, es für schlicht normal halten, dass so verfahren wird wie hier. Das wäre dann nicht peinlich, es wäre ein Missstand.

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