
© David von Becker
Spekulatives Design als Forschungsprinzip: Was könnte sein?
Angesichts wachsender globaler Unsicherheiten ist die Zukunft heute weniger vorhersagbar denn je. Spekulatives Design will mit alternativen Szenarien Zukunft als gestaltbar kenntlich machen.
Stand:
In Zeiten rasanter gesellschaftlicher Umbrüche, technologischer Revolutionen und ökologischer Krisen wird die Frage nach der Zukunft auf immer neue Weise dringlich: Wie werden – und vor allem: wie wollen – wir künftig leben? Wie verändern sich unsere Städte, unsere Umwelt, unsere materielle Kultur? Statt Antworten hierauf nur in Zahlen, Trends und Modellen zu suchen, braucht es kreative Werkzeuge, die es ermöglichen, Zukunft nicht nur vorauszusehen, sondern auch proaktiv zu gestalten. Hier setzt das spekulative Design an – ein Ansatz, der Design, Wissenschaft und Philosophie verbindet und als neues interdisziplinäres Forschungsprinzip verstanden werden kann.
Zukunft wird heute meist datenbasiert gedacht: Prognosemodelle aus Klimaforschung, Wirtschaft und Technologie versuchen, das Kommende berechenbar zu machen. Doch gerade angesichts wachsender globaler Unsicherheiten wird deutlich: Die Zukunft ist weniger denn je vorhersagbar – sie ist offen, komplex und voller Brüche.
Spekulatives Design stellt der Idee der Planbarkeit eine neue Haltung entgegen. Statt zu fragen: „Was wird wahrscheinlich passieren?“, lautet die Frage: „Was könnte sein?“ Dabei geht es nicht um präzise Vorhersagen, sondern um das Entwerfen alternativer Zukunftsszenarien – um fremde, utopische, vielleicht auch dystopische Visionen, die zum Nachdenken anregen wollen. Von einem solchen Ansatz können nicht nur die traditionellen Designdisziplinen, sondern auch die Wissenschaft und Forschung profitieren.
Spekulatives Design ist aus dem Wunsch entstanden, die Designtätigkeit über rein funktionale oder kommerzielle Zwecke hinaus weiterzuentwickeln. Seine Wurzeln reichen zurück in die 1960er- und 70er-Jahre, als radikale Kollektive wie Archigram (UK) oder Superstudio (Italien) mit visionären Architekturentwürfen gesellschaftliche Normen infrage stellten. Ihre Arbeiten verstanden Design nicht als reine Dienstleistung, sondern als Mittel zur Imagination und Kritik.
Zu dieser Zeit gewann auch die Zukunftsforschung an Bedeutung – eine wichtige Inspirationsquelle für das spekulative Design. Design wurde zunehmend als ein zukunftsgerichteter Prozess verstanden, der bestehende Situationen in erwünschte verwandeln sollte, wie es der Nobelpreisträger Herbert A. Simon beschrieb.
Ein Kühlschrank, der Entscheidungen trifft
Die britischen Designer:innen Anthony Dunne und Fiona Raby formulierten den Ansatz des spekulativen Designs in den 1990er-Jahren weiter aus. In ihrem Buch Speculative Everything (2013) plädierten sie dafür, Design als Instrument kollektiver Imagination zu begreifen – als Methode, um mögliche, wahrscheinliche und wünschenswerte Zukünfte sichtbar zu machen.
Spekulatives Design kann Impulse geben, indem es andere planetare Zukünfte vorstellbar und verhandelbar macht.
Claudia Mareis, Wissenschaftlerin
Spekulative Designentwürfe muten oft absurd oder irritierend an: ein Kühlschrank, der ethische Entscheidungen trifft. Medikamente, die Erinnerungen löschen. Ein Parlament für Tiere. Solche Ideen sind selten funktional – aber genau darin liegen ihre Absicht und Stärke. Sie zielen darauf ab, kontroverse Debatten anzustoßen. Zukunft wird nicht als lineare Fortschreibung der Gegenwart verstanden, sondern als etwas, das grundsätzlich ganz anders sein könnte.
Zwischen Gestaltung, Wissenschaft und Philosophie
Auf den ersten Blick wirkt spekulatives Design wie ein künstlerisches Experiment – verspielt, provokant, teils utopisch. Doch bei genauerem Hinsehen erfüllt es zentrale wissenschaftliche Funktionen: Es formuliert Hypothesen, stellt Annahmen infrage und eröffnet neue Fragestellungen. Es verhält sich ähnlich wie klassische Gedankenexperimente in der Physik oder Philosophie. In diesem Sinne lässt sich spekulatives Design als neuartiges Forschungsprinzip verstehen: Es liefert keine empirischen Beweise, wohl aber neue Perspektiven und trägt so zum Wissensgewinn bei.
In einer Welt, die viele als unkontrollierbar und überkomplex empfinden, eröffnet spekulatives Design einen Zugang zur Gestaltung von Zukunftswissen.
Claudia Mareis, Wissenschaftlerin
Gerade in jenen Feldern, in denen traditionelle Methoden an ihre Grenzen stoßen – etwa in der Klimaforschung, Bioethik, Künstlichen Intelligenz oder Sozialpolitik –, kann spekulatives Design Impulse geben, indem es andere planetare Zukünfte vorstellbar und verhandelbar macht. Wie würde eine Welt ohne fossile Brennstoffe aussehen? Oder eine Zukunft, in der Pflanzen die Funktion von Computern übernehmen?
Ein zentrales Anliegen des spekulativen Designs ist die Demokratisierung von Zukunft. Denn: Wer gestaltet sie eigentlich? Politiker:innen, Tech-Konzerne, Wissenschaftler:innen – oder nicht auch wir alle? Indem es Zukunftsszenarien visuell und materiell erlebbar macht, bezieht spekulatives Design die Gesellschaft aktiv ein. In Museen, Schulen, Stadtprojekten oder partizipativen Formaten, wie in dem von der Berlin University Alliance geförderten Experimentallabor CollActive Materials, entstehen Räume, in denen gemeinsam über zukünftige materielle Kultur spekuliert wird.

© 2025 Collactive Materials
Ziel ist es, spekulatives Design als neuen Ansatz für den Wissensaustausch zwischen Forschung und Gesellschaft zu entwickeln. Fragen wie „Was wird uns in Zukunft verbinden? Könnten dabei aktive und intelligente Materialien eine entscheidende Rolle spielen?“ regen zur Auseinandersetzung an – offen, politisch, partizipativ. Dieser Schritt hin zu einer gemeinschaftlichen Wissensproduktion ist für die universitäre Forschung unverzichtbar geworden – sowohl mit Blick auf die Erweiterung ihres eigenen Wissensrepertoires als auch auf ihre Akzeptanz in der Öffentlichkeit und Gesellschaft.
Kritik und Grenzen des spekulativen Designs
Trotz seiner Innovationskraft steht spekulatives Design auch in der Kritik. Manchen Projekten wird vorgeworfen, zu abstrakt oder abgehoben zu sein – fernab der Lebensrealität vieler Menschen. Oft erreichen diese Szenarien nur ein akademisches oder kunstinteressiertes Publikum, während breitere gesellschaftliche Gruppen sich nicht angesprochen fühlen. Gelegentlich drohen spekulative Entwürfe auch zum reinen Selbstzweck zu werden – als ästhetisch stilisierte Objekte ohne gesellschaftlichen Tiefgang.
Kritisiert wird auch, dass spekulative Projekte oft aus einer westlich-akademischen Perspektive entstehen und dadurch alternative kulturelle Zukunftsvorstellungen ausblenden. Was etwa in Europa als dystopisch erscheint – wie durch den Klimawandel unbewohnbare Regionen oder komplett durchdigitalisierte Städte – ist in anderen Teilen der Welt längst Realität. Damit spekulatives Design wirklich Wirkung entfalten kann, muss es daher inklusiv, zugänglich und kontextsensibel gedacht werden. Vor allem muss es sich seiner eigenen impliziten Vorannahmen und privilegierten Perspektiven bewusst sein.
Ambivalentes Potenzial
In einer Welt, die viele als unkontrollierbar und überkomplex empfinden, eröffnet spekulatives Design – trotz berechtigter Kritik – einen vielversprechenden, vielleicht sogar unverzichtbaren Zugang zur Gestaltung von Zukunftswissen. Es macht deutlich, dass Zukunft kein unabwendbares Schicksal ist, dem wir passiv ausgeliefert sind, sondern auch eine Frage unserer Vorstellungskraft und Gestaltungsmacht.
Jeder Entwurf trägt freilich ein ambivalentes Potenzial in sich: Er kann die Welt zum Besseren oder zum Schlechteren verändern. Spekulatives Design fordert uns somit auf, Verantwortung zu übernehmen – für die Zukünfte, die wir anstreben, ebenso wie für jene, die wir vermeiden wollen.
Als Forschungsprinzip gedacht, kann spekulatives Design dabei helfen, innovative Forschungsfragen zu entwickeln, interdisziplinäre Brücken zu schlagen und gesellschaftliche Debatten anzuregen. Es ist kein Ersatz für Wissenschaft oder Politik, sondern vielmehr eine Ergänzung: eine Methode, um Undenkbares denkbar und Unsichtbares sichtbar zu machen. Spekulatives Design bringt Forschung, Design und Gesellschaft auf neuartige Weise zusammen. Es eröffnet explorative Räume, in denen wir mittels Gedankenexperimenten die Zukunft anders denken und einen pluralistischen Zukunftsbegriff entwickeln können. Denn wer über eine bessere Zukunft sprechen will, muss sie sich zuerst vorstellen können.