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Der natürliche Lebensraum von Eisbären ist durch den Klimawandel stark bedroht.

© Getty images/Paul Souders

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Forschung und Klimawandel : Sollten wir am 1,5°C-Ziel festhalten?

Die globale Erwärmung schreitet immer weiter voran, doch bis heute fehlen 1,5°C-konforme Politiken. Welche Schlüsse Wissenschaft und Gesellschaft daraus ziehen müssen.

Von Charlotte Unger

Stand:

2025 jährt sich das Pariser Klimaabkommen zum zehnten Mal. Auf der UN-Klimakonferenz 2015 hatten sich fast 200 Staaten dazu verpflichtet, den weltweiten Temperaturanstieg möglichst auf 1,5°C zu begrenzen. Doch im Jubiläumsjahr gibt es wenig Grund zu feiern. Seit Juli 2023 haben fast alle Monate eine Durchschnittstemperatur von 1,5°C überschritten, wie der EU- Klima Berichtsservice Copernicus zeigt.

Weil die Klimawissenschaft auf den Durchschnitt von 20-30 Jahren schaut, heißt dies zwar nicht notwendigerweise, dass wir die Zielmarke des Pariser Abkommens überschritten haben. Doch Fakt ist: Mit dem, was die Länder derzeit in ihren nationalen Plänen für das Pariser Abkommen versprechen, wird das 1,5°-Ziel nicht eingehalten werden. Auch die deutsche Klimapolitik wird derzeit nicht als 1,5°C-kompatibel eingeschätzt. Realistisch betrachtet steht uns eine 2,6-3,1°C -Welt bevor.

Ist es vor diesem Hintergrund überhaupt noch gut, am 1,5°C-Ziel festzuhalten?

Ursprünglich hatte der wissenschaftliche Weltklimarat (IPCC) im Jahr 2001 ein Ziel von 2°C angesetzt. 2°C galt über viele Jahre hinweg als die allgemein akzeptierte Marke. Das 1,5°C-Ziel hingegen entstand eher abrupt, auf Drängen der Allianz der kleinen Inselstaaten (AOSIS) bei der Klimakonferenz der Vereinten Nationen 2009. Denn nur mit einer Beschränkung der Erwärmung auf 1,5°C können lebensbedrohliche Ereignisse, wie das Verschwinden eines Großteils der Lebensräume auf kleinen Inseln, noch vermieden werden. Als sich eine Vielzahl von Experten aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft hinter den strengeren Wert stellte, gelangte er als Ziel in das Pariser Klimaabkommen von 2015.

Drei Jahre später veröffentlichte der IPCC einen Sonderbericht, der wissenschaftlich eindeutig klarstellte: Der Unterscheid zwischen 1,5°C und 2°C ist drastisch, da sich viele der erwarteten Klimawandelfolgen wie extreme Hitze, Meeresspiegelanstieg oder Biodiversitätsverlust in ihrer Stärke mehr als verdoppeln.

Seitdem hat sich das 1,5°C-Ziel etabliert. Es wurde in politische Pläne und Maßnahmen für Städte, Unternehmen und sogar Einzelpersonen umgesetzt (z. B. Maßnahmen zum CO2-Fußabdruck oder „1,5°-Lebensstile“). Außerdem haben es soziale Bewegungen und Aktivistengruppen wie Fridays for Future oder Unternehmensinitiativen (z. B. die Science Based Targets Initiative) aufgegriffen. „1,5°C“ ist zur goldenen Zahl für alle Klimaschutzaktivitäten geworden.

Der Klimawandel führt zu extremer Hitze.

© Getty Images/ Lucas Ninno

Ziele sind wichtig, um einen Maßstab zu haben. Denn erst mit einer konkreten Marke kann man überprüfen, ob Maßnahmen wirken oder nicht. Z.B. erstellt der Climate Action Tracker eine Skala von Rot bis Grün, die angibt, ob die nationalen Klimapläne der Länder unter dem Pariser Klimaabkommen „1,5°C-kompatibel“ sind. So können wir feststellen, ob unsere Regierungen genug für den Klimaschutz tun. Auch Gerichte tun dies. Im Juli 2025 nahmen die Richter des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag Bezug auf das 1,5°C-Ziel und urteilten, dass Staaten völkerrechtlich zum Klimaschutz verpflichtet sind.

Aber auch psychologisch sind (Klima-)Ziele wichtig, da sie Orientierung und Motivation bieten. Menschen neigen dazu, sich stärker zu engagieren, wenn sie wissen, was sie erreichen wollen. Ziele fördern das Gefühl, durch eigenes Handeln etwas erreichen zu können. Ein weltweit gültiges Klimaziel steht für die Hoffnung, dass wir die Klimakrise durch Zusammenarbeit bewältigen können.

Goldene Zahl: Auch soziale Bewegungen haben das 1,5°C-Ziel aufgegriffen. 

© Unsplash/Mika Baumeister

Das 1,5°C-Ziel macht für uns komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge wie die Erderwärmung etwas leichter verständlich. Das 1,5°C-Ziel ist spezifisch, messbar und zeitgebunden, was ihm einen klaren Vorteil gegenüber der eher abstrakten Forderung verleiht, die Staaten sollten „das Klima schützen und die Welt retten“. Aus diesem Ziel lassen sich Emissionsbudgets und nationale Verantwortlichkeiten (NDCs) ableiten.

1,5°C heißt, möglichst vielen Menschen ein würdiges Leben auf der Erde zu sichern.

Charlotte Unger, Sozialwissenschaftlerin 

Außerdem dient das 1,5°C-Ziel dazu, eine gesellschaftliche Norm dafür zu schaffen, welche Maßnahmen notwendig und ethisch vertretbar sein sollten. 1,5°C fungiert als Bezugspunkt eines Individuums oder einer Gruppe für Urteile und Entscheidungen und leitet die politische und gesellschaftliche Debatte. Eine möglichst ehrgeizige Zahl hilft, die Diskussionen in die richtige Richtung zu lenken und möglichst nah an der ursprünglichen Zielsetzung zu bleiben.

Nun aber stehen wir vor der Überschreitung des Ziels, und auch nach zehn Jahren Laufzeit des Pariser Abkommens fehlen 1,5°C-konforme Politiken. Vielleicht noch viel schlimmer sind die akute Stimmung der Hoffnungs- und Machtlosigkeit und Gedanken wie „Wir können doch eh nichts tun!“ oder „Wenn andere nicht mehr tun, bringt unser Beitrag eh nichts.“ Daher ist es zum jetzigen Zeitpunkt besonders wichtig, die Kommunikation in Politik und Wissenschaft zu ändern.

1,5°C ist keine harte Schwelle

Wir müssen unsere Klimaschutzanstrengungen weiterhin an 1,5°C ausrichten und uns bemühen, die unerträglichen Schäden zu vermeiden, die umso wahrscheinlicher sind, je mehr wir die 1,5°C überschreiten. Die Überschreitung des Wertes stellt den Konsens, auf dem das Pariser Abkommen beruht, nicht zur Disposition.

1,5°C ist jedoch keine harte Schwelle zwischen einem sicheren und einem unsicheren Klima und kein Grenzwert, an dem das Klima schlagartig zusammenbricht und die Welt „untergeht“. Das Überschreiten von 1,5°C bedeutet nicht, dass alle Klimabemühungen umsonst waren. Wenn wir über 1,5°C sprechen, sollten wir dabei immer klarmachen, dass jedes zehntel, jedes hundertstel Grad zählt. Jedes bisschen, das wir erreichen, ist besser als der Status quo.

Dürreperioden sind eine von vielen Auswirkungen des Klimawandels.

© Getty Images/Ashley Cooper

Ein Narrativ wie „Jedes Zehntelgrad zählt“ könnte durch Beschreibungen ergänzt werden, die Klimaschutzmaßnahmen direkt mit zukünftigen Ereignissen in Verbindung setzen. 1,5° C heißt, möglichst vielen Menschen ein würdiges Leben auf der Erde zu sichern. Hunderte Millionen Menschen leiden bereits heute täglich unter den Folgen des Klimawandels. Sie erleben Nahrungsmittelknappheit aufgrund von Missernten, haben gesundheitliche Probleme oder können aufgrund extremer Wetterereignisse nicht zur Schule gehen oder arbeiten.

Die Welt ist weiter als vor zehn Jahren

Mit unserer Kommunikation können wir die Selbstwirksamkeit der Menschen anregen und mehr Zusammengehörigkeit stiften: Wenn alle kleinen Schritte zählen, heißt das auch, dass der Beitrag jeder einzelnen Person wichtig ist, sei es Energie einsparen, weniger Auto fahren oder geringerer Fleischkonsum.

Wir sollten zudem ehrlich darüber informieren, dass auch ein „nur temporäres Überschreiten von 1,5° C“ von vielen Risiken begleitet wird. Technische Möglichkeiten, CO₂ wieder aus der Atmosphäre zu entziehen, sind in sozialer Hinsicht schwierig, und viele Klimafolgen, wie etwa das Artensterben oder der Verlust von Korallenriffen, sind unumkehrbar.

Zehn Jahre nach Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens geht es darum, weiter Hoffnung zu machen: Die Welt ist weiter als noch vor zehn Jahren, und es gibt viele Beispiele, die zeigen, was wir mit der großen Transformation gewinnen. Wir müssen uns weiterhin mit aller Kraft um das Einhalten von 1,5°C bemühen. Aber wir sollten unsere Hoffnung nicht aufgeben, wenn wir das Ziel doch überschreiten.

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