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„Wir haben es in unserer Kultur und auch wissenschaftlichen Zugängen mit dem Individualismus übertrieben“, sagt Maja Göpel.

© Linda Schäffler

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12 Fragen an Maja Göpel: „Wir brauchen wieder mehr Menschen, die in unsere Gesellschaft einchecken“

Sie ist Deutschlands bekannteste Nachhaltigkeitsexpertin und Transformationsforscherin. In ihrem neuen Buch deckt Maja Göpel Zusammenhänge auf und liefert zukunftsträchtige Strategien.

Stand:

Kriege und Klimakatastrophe, Überreichtum und Rechtsruck, Fake News und freidrehende KI. Liebe Frau Göpel, fühlen Sie als Zukunftsforscherin sich auch gerade überfordert von den Krisen dieser Welt? 
Ja, natürlich. In den 30 Jahren, die ich nun zu Nachhaltigkeit arbeite, ist noch nie so viel auf einmal ins Rutschen geraten. Damit bleiben die Ziele nach wie vor überzeugend und richtig, aber die Wege dahin werden unübersichtlich, denn die brauchen Kooperation.

Sie nennen in Ihrem neuen Buch „Werte. Ein Kompass für die Zukunft“ die Stimmung in Deutschland und vielen Teilen Europas derzeit so mies, wie Sie es noch nie erlebt haben. Woher kommt dieses Tief?
Zum einen stecken wir in etwas, was die Transformationsforschung „strukturelle Krisen“ nennt, der Weg raus wird sich also nur durch das Schaffen neuer Abläufe und Prozesse gestalten lassen. Dafür steht auch der Begriff Transformation, die Form ändert sich. Das fordert uns natürlich anders als die dauerhaft stattfindenden, kleineren Anpassungsveränderungen, wo wir im Prinzip weitermachen wie bisher und nur einzelne Teile austauschen oder Abläufe effizienter machen.

Ein Beispiel hier kann die Energiewende sein: Statt einfach Kohle gegen Gas auszutauschen, geht es bei den erneuerbaren Energien darum, ganz von begrenzten, verschmutzenden und zunehmend umkämpften Brennstoffen wegzukommen. Das gelingt aber nur mit einer dezentralen Form des „Erntens“, wo also Solar, Wind, Geothermie, Wasserkraft etc. smart in eine Versorgungsinfrastruktur zusammengebracht werden. Dafür braucht es nicht nur neue Technologien, Infrastrukturen und Abläufe, sondern auch Geschäftsmodelle, Baugenehmigungen, DIN Standards und nicht zuletzt gesellschaftliche Überzeugung, mitzumachen.

Gerade als viele Transformationsprojekte in Schwung kamen, kamen die externen Schocks, einer nach dem anderen: Corona, der russische Angriffskrieg, Inflation, eine digitale Revolution und nun das Aufkündigen des Multilateralismus durch die US-Administration. Das haben sich Vertreter:innen autokratischer Zukunftsvisionen zunutze gemacht und in die Verunsicherung hinein ordentlich Fehlinformationen, wütende Schuldzuweisungen und eine Agenda des Rechts der Stärkeren entladen. Die Sicht auf die Welt, die dabei entsteht, macht einfach richtig schlechte Laune. Die ist bei AfD-Wählenden auch tatsächlich stärker ausgeprägt, das zeigen Umfragen.

Ist unser fehlender gesellschaftlicher Zusammenhalt ein Problem, das all diese anderen noch verschlimmert?
Die Sozialforschung sieht die Sorge vor einem wachsenden Egoismus ganz oben auf der Skala – und das quer durch die ganze Gesellschaft. Umgekehrt, da können wir alle mal ehrlich auf uns selbst schauen, checken dann ja auch immer mehr Menschen aus: Steuerhinterziehung und Krankheitstage in historischem Ausmaß sind da zwei Varianten der gleichen Abmeldestrategie. Wenn alle sich in einer Krise nur noch um sich selbst kümmern und noch mal das meiste für sich rausholen – dann ist das ein gutes Mittel, um Abwärtsspiralen voranzutreiben. Raus aus Krisen führt das Einchecken: Ziele klar vor Augen, Ressourcen bündeln und neue Wege beschreiten. Dann wird auch die Wut auf „die Anderen“ schnell kleiner.

Werte sind ein zentraler Begriff Ihres Buches. Was bedeuten Werte konkret für unseren Alltag und wie können sie uns Kompass sein?
Werte drücken für uns immer etwas Positives aus, etwas Wünschenswertes. Sie stehen für eine „Hin-zu-Energie“ und können uns damit Orientierung bieten in unübersichtlichen Situationen oder wenn keine klaren Regeln gelten. Diesen Kompass spüren wir dann oft häufiger, als dass er direkt als klarer Gedanke aufscheint. Damit können Werte auch als Anschub für Veränderung wirken, wenn bestehende Lösungen oder Prozesse nicht mehr passend für bestimmte Ziele oder Werte erscheinen. Der Begriff der Wertekongruenz bringt das auf den Punkt: Verkörpern die aktuellen Verhaltensweisen und Abläufe auch die formulierten Werte bzw. helfen sie uns, davon mehr in die Welt zu bringen?

Wir haben es in unserer Kultur mit dem Individualismus übertrieben.

Maja Göpel

Werte wie Freiheit sind mittlerweile sehr aufgeladen und werden von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander ausgespielt. Wie geht man damit am besten um?
Aus meiner Sicht hilft systemisches Denken. Wir haben es in unserer Kultur und auch wissenschaftlichen Zugängen mit dem Individualismus übertrieben, also mit der Idee, dass aus vielen, sich nach ihrem Gusto verhaltenden Menschen dann in der Summe auch eine freie Gesellschaft rauskommen wird. Vor diesem methodologischen Fehlschluss warnen alle systemischen Denkschulen. 

Denn die vielen einzelnen Entscheidungen verändern in ihrer Summe dann die gesamte Beschaffenheit der Welt, in der diese getätigt werden – und das führt überhaupt nicht immer zu mehr Freiheit. Genau das besagt die Nachhaltigkeitsforschung mit ihrem Verweis auf die ökologische Zerstörung ja schon seit 50 Jahren: Das Summenergebnis eines zerstörten Klimas, erodierter Böden, rasantem Artensterben oder auch exorbitanter Ungleichheit und digitaler Manipulation würde niemand frei und aktiv wählen. Es entsteht aber, wenn wir diese kumulativen, also zusammengerechneten Effekte einzelner Entscheidungen nicht anschauen wollen. 

Engagiert: Junge Menschen auf einer Demonstration für mehr Klimaschutz.

© Mika Baumeister/unsplash

Der Ökonom Alfred Kahn hat das schon 1966 die Tyrannei der kleinen Entscheidungen genannt. Das hat aber auch die systemische Denkschule im Liberalismus klar erkannt und daher einen Ethos formuliert, dass freie Entscheidungen auch mit einer Verantwortung für die Effekte einhergehen. Viele offensiv und aggressiv auftretende Freiheitskämpfer heute wollen aber genau nicht die systemischen Effekte angucken oder auch, wie ihre Freiheitsausübung sich auf die Freiheitschancen anderer auswirkt.

Das wäre der positive Freiheitsbegriff von Kant: Meine endet dort, wo deine beschnitten wird. Auch hier sehen wir, dass Freiheit immer ein relationales Phänomen ist, also die Verhältnisse zwischen Individuen ausschlaggebend sind. Ein hilfreiches Gedankenexperiment für diese Sicht hat der Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls formuliert mit seinem „Schleier der Unwissenheit“: Wie würdest Du eine Regel oder eine Gesellschaft aufbauen, wenn du nicht vorher wüsstest, an welcher Position du dann landest? So kommen wir in das Denken in Chancengerechtigkeit.

In Ihrem Buch decken Sie unsere gesellschaftliche Gruppenblindheit auf. Was ist das genau? Und wie kann man sie beheben?
Gruppenblindheit, in der Soziologie Pluralistische Ignoranz genannt, beschreibt das Phänomen, dass Menschen eben genau nicht völlig frei handeln und entscheiden, sondern dabei abschätzen, wie andere Menschen in ihrer Gruppe wohl zu dem Thema denken. 

Gehe ich davon aus, dass meine eigenen Überzeugungen und Handlungen von der Mehrzahl geteilt werden, tue ich das viel selbstverständlicher. Bei Veränderungen, also Abweichungen von der Normalität, unterschätzen wir aber schnell, wie viele dabei mitgehen würden. Eine typische Verteilung ist 30:60, also wir denken, dass 30 Prozent so denken wie wir, es sind aber bei Einzelbefragungen 60 Prozent. Das ist deshalb so wichtig, weil ja bei 50 Prozent die Mehrheit liegt und wir damit systematisch unterschätzen, dass sie erreicht ist. 

Gemeinsam etwas bewegen: Oft sind mehr Menschen zu Veränderungen bereit, als man selbst annimmt.

© Curated Lifestyle/unsplash

Deshalb ist eine konservative Berichterstattung so ein großer Hemmschuh: „Frau Göpel, wie wollen Sie die Menschen denn überhaupt zur Veränderung bringen?“ Damit wird ja neu die Annahme gesetzt, dass die Mehrheit gegen Veränderung ist. Auch das Bonmot „die Deutschen mögen eben keine Veränderung“ wirkt implizit darauf hin. Dabei sagen in den Umfragen zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit um die 70 Prozent, dass sie durchaus bereit wären, mehr zu tun – unter der Bedingung, dass die anderen auch mitmachen und Kosten und Nutzen fair verteilt sind. 

Da lohnt es sich dringend, auf die Art zu achten, wie wir über Dinge sprechen. Die Blockierer von Veränderung bedienen den Effekt ja wunderbar, indem sie ständig die drei unheiligen V durch die Schlagzeilen und Rahmungen treiben: Verzicht, Verbot, Verlust – super Einstiegsbegriffe, um Veränderung neutral zu bewerten (lacht).

Die wohl schwierigste Aufgabe gerade ist es: sich für die Zukunft der Kinder einzusetzen und dabei auch in der Gegenwart präsent zu sein.

Maja Göpel

Das Bild unserer Zukunft ist für viele von Sorge vor Verlusten und Verboten geprägt, auch durch die Medien. Sie schlagen eine Zentrale für politische Erfolgsmeldungen vor. Was könnte die aktuell vermelden?
Wichtig ist vor allem, dass wir die Indikatoren für erfolgreiche Ergebnisse anpassen, also die Messgrößen in Wirtschaft und Politik. Aktuell zeigen die einflussreichen ökonomischen Indikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP), die Konjunkturforschung, viele Kosten-Nutzen-Rechnungen – zum Beispiel auch bei öffentlicher Verschuldung –, aber auch der Standard zur Berechnung von Bürokratiekosten ja nicht mal an, wie viel Schadschöpfung unsere heutige Normalität in sich trägt.

Die systemische Denkweise unterscheidet da Bestände und Geldflüsse: Ich kann sehr viel Geld damit verdienen, einen Regenwald komplett abzuholzen und als Rohstoff zu verkaufen. Dann aber gibt es irgendwann nicht mehr ausreichend Wasserspeicher, Biodiversität, gereinigte Luft – nicht umsonst wird der Amazonas ja auch die Lunge der Welt genannt. Wenn diese Bestände zerstört sind, kann ich noch so viel Geld draufwerfen, da erholt sich zumindest kurzfristig nichts mehr. Trotzdem wird „Erfolg“ ohne Blick auf die realen Veränderungen im Bestand der Ressource gemessen und schonender Umgang immer noch als „Kosten“ bilanziert.

Eine vielfältige Natur erholt sich nicht so leicht, wenn sie einmal zerstört ist.

© Abhi Verma/unsplash

Das gleiche Phänomen sehen wir jetzt im Arbeitsmarkt einer alternden Gesellschaft: Wenn ich jahrzehntelang ignoriere, dass systemrelevante Jobs in Pflege, aber auch Bildung nicht genug Menschen anziehen – aus Lohn- wie Überarbeitungs-, aber auch Reputations- und zunehmend Rassismusgründen –, dann darf ich mich nicht wundern, wenn plötzlich der Bestand an Arbeitskräften den Bedarf nicht decken kann.

Die Lösung?
Um solchen Versorgungskrisen vorbeugen zu können, muss ich sie auch anzeigen und sehen können und wollen. Dann kann ich auch zeigen, warum sich struktureller Wandel lohnt und dass es vorangeht. Bei der Energiewende war das zum Beispiel bis zu den Neuwahlen gelungen – auch wenn es eine Zeitung war, die jede Woche den Zubau, die Preise pro Kilowattstunde und die sinkende Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen in Tabellen gefasst hat. 

Wir haben ja eine ganze Nachhaltigkeitsstrategie mit solchen Bestandsindikatoren, die auch für jede Regierung wegweisend sein soll und von Gesundheitswerten über Bildungsabschlüsse zu Verteilungsfragen und der rücksichtsvollen Nutzung begrenzter Ressourcen reicht. Diese realweltlichen Veränderungstrends offensiver zu kommunizieren und zu zeigen, wie Politik auf sie einwirkt, würde auch bei der Bevölkerung wieder das Vertrauen stärken, dass es „denen in Berlin“ nicht nur um die Sonntagsfrage geht. Sondern um Wirkung.

Ein anderer wichtiger Begriff in Ihrem Buch ist der Anstand, der uns Ihrer Meinung nach gerade verloren geht. Anstand mag für einige angestaubt klingen, für Sie ist er hochaktuell. Warum?
Anstand ist der Wert, mit dem wir Erwartungssicherheit geben können. Das Versprechen, unsere eigene Freiheit im Verhältnis zu anderen auszuleben, fair zu spielen und auch mal uns selbst zugunsten anderer zurückzustellen, also Kompromisse zu suchen. Und dabei ehrlich zu sein, anständig hinzugucken. Spüren Sie einfach mal rein, wie sich so eine Grundeinstellung auswirkt – gerade in unübersichtlichen Zeiten und sehr ungleicher Verteilung von Gestaltungsmacht.

Was können einzelne Bürgerinnen und Bürger konkret tun, um wieder zu einem anständigen Miteinander zu kommen?
Ehrlich miteinander sprechen, was ihnen gerade Sorge macht, und dabei sowohl simple Schuldzuweisungen als auch unhinterfragtes Rezitieren von Skandalmeldungen vermeiden. Sich darüber verständigen, was gute Quellen für eine glaubwürdige Darstellung der Herausforderungen sind – und Social Media den realen Begegnungen unterordnen. Online ist der Ort, in dem demokratiefeindliche Akteure sehr strategisch unanständige und agitierende Umgangsformen normalisieren. Und das, so zeigen Bücher wie „Der Krieg der Medien“ oder auch „Die Achse der Autokraten“ über Ländergrenzen hinweg.

Sie raten, „die Deutungshoheit über unsere Umgangsformen und wünschenswerte Zukünfte nicht den Lautesten und Egoistischsten zu überlassen“. Das braucht mittlerweile Mut, denn Widerrede setzt sich oft persönlichen Angriffen aus. Ihr Umgang damit?
Rückbindung an Kraftquellen. Natur, Pferde, Musik, wissenschaftlich ruhig aufbauende und argumentierende Texte und immer wieder Zeit mit den Liebsten. Das ist wohl die schwierigste Aufgabe gerade: sich für die Zukunft der Kinder einzusetzen und dabei auch in der Gegenwart präsent zu sein.

Was gibt Ihnen Zuversicht, wenn es um unsere Gesellschaft geht?
Viele fantastische Begegnungen und die Erkenntnis, dass Zukunft immer offen bleibt.

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