Geschichte hat einen langsamen Gang. Das Verständnis von Geschichte ist noch langsamer.
Christoph Funke
Okay, die Menschen sind nicht mehr. Sagt der Tod in einem "schönen Theaterstück", geschrieben von Sibylle Berg unter dem Titel "Helges Leben".
Mit dem Theater die Welt verändern, die Zuschauer formen und veredeln - das war ein Traum nicht nur sozialistischer Bewegungen. Von der gegebenen gesellschaftlichen Realität ist diese Wunschvorstellung, seit auf der Bühne gespielt wird, immer wieder zerrieben, aber nie ganz vergessen worden.
Trauer soll nicht sein. Nicht über Alter und Vergänglichkeit, nicht über das Flüchtige des Augenblicks.
Die Vertreibung alter Menschen aus ihrer Lebensumwelt ist ein böser Vorgang. Raum für Heiterkeit scheint es da kaum zu geben.
Der Komtur, hier heißt er "Ein Herr", kommt schon im ersten Akt, um den Frauenverführer zum Duell zu bestellen. Es endet für den Bösewicht, wie es sich gehört, tödlich - zwischen dem zweiten und dritten Akt.
Acht auf einen Streich. Gemeinsam gehen sie zum Teufel in die feuerrot wabernde Hölle, Herren zumeist schon gesetzten Alters, die sich 90 Minuten lang die Seele aus dem Leib gespielt und vor allem gesungen haben.
Grausamkeit: in jeder Geste, jedem Wort. Dabei sind die fünf Erwachsenen, die sich da im gediegen möblierten Wohnzimmer "an einem frühen Samstagabend im Frühling" treffen, nette Leute.
Berliner Geschichte, und ein paar Jahrhunderte währt sie ja nun doch, erledigt das Theater im Palais ohne gelehrte Anstrengung in knapp zwei Stunden. Bevor es "Mit der Hand übern Alexanderplatz" (nach dem Lied von Franz Mehring und Friedrich Hollaender) geht, wird dem geneigten Publikum für den "Spaziergang" durch die Zeiten eine wohlabgewogene Portion Bildung verabreicht.
Zur Ruhe kommen will Angelica Domröse nicht. Was sie gespielt hat, liegt hinter ihr, was sie spielen wird, verlangt ihre ganze Aufmerksamkeit.
Gelassen, heiter fast plauderte Dietrich Simon am Sonntagabend in der Berliner Akademie der Künste über Rolf Hochhuth, den Siebzigjährigen. Es ist eine Abschiedsrede - und eine Rechenschaft.
Zuwendung, Fürsorge als Folter. Sorgsam ausgedacht und gnadenlos.
Arbeit, Arbeit, nichts als Arbeit. Faust, der Gelehrte, gedrungen, kräftig, fast schon kahl und mit der Brille auf der Nase, ist des Zornes voll.
Nur keine Gewissheit: "A. ist eine andere", A.
Menschen träumen von Liebe und von Erfolg, vom Glück in der Familie, von der Nähe zu Kindern, vom Aufblühen besonderer Talente und Fähigkeiten. Die Menschen, von denen das Roma Theater Pralipe an seinem Theaterabend "Z 2001 - Die Tinte unter meiner Haut" im Postfuhramt Oranienburger Straße erzählt, sind Zigeuner.
Was gebietet die Religion - am Leben zu bleiben, auch als Besiegter in einem erbarmungslosen Krieg, oder von eigener Hand zu sterben, um sich den Siegern nicht zu ergeben? Für den jüdischen Historiker Flavius Josephus war das die entscheidende Frage seiner Existenz.
Am 8. August 1956, wenige Tage vor seinem Tod, schreibt Brecht an den Sowjetischen Schriftstellerverband: "Käthe Reichel, die Euch diesen Brief übergibt, ist eine der begabtesten Schauspielerinnen des Berliner Ensembles und auch in Westdeutschland sehr bekannt.
Ingo Sassmann, der erst unwillig, dann feurig plaudernde Vorhangzieher, erscheint in der Kömödie am Kurfürstendamm in Gestalt von Walter Plathe. Dem Autor Rainer Lewandowski muss zugestanden werden, mit seinem Monolog "Heute weder Hamlet" einen Text aus den abgründigen Untiefen des Theateralltags geschrieben zu haben und zugleich eine fröhliche Spinnerei: Hauptdarsteller nicht spielfähig, Vorstellung fällt aus, Publikum bleibt sitzen, Sassmann übernimmt im Alleingang - und macht den Leuten etwas vor.
Die Unheil kündenden Träume der Nibelungen-Recken von Friedrich Hebbel gehen in Erfüllung. Das gehört sich so.
Schöpferische, wilde, geschundene Kreatur - der Baal von Uwe Schmieder ist ein Treibender und ein Getriebener ein Poet, dem es die Verse gleichsam aus den Gliedern reißt. Susanne Truckenbrodt hat im Orphtheater in der Ackerstraße Brechts erstes großes Stück als eine tänzerisch-musikalische Entladung inszeniert.
König Friedrich II. von Preußen ist gerade zwei Jahre im Amt und hat seine ersten Feldzüge hinter sich, als er ein Lustspiel schreibt.
Hochberühmt, aber unter der Last der Interpretationen fast schon zusammengebrochen ist Franz Kafkas Erzählung "Ein Bericht für eine Akademie". Bringt George Tabori diesen Monolog über die Menschwerdung des Affen Rotpeter auf die Bühne, dann will er auch zeitgenössische Erfahrungen im klassischen Text aufglühen lassen.
Der Stern, der hat fünf Zacken. Er ist rot und liegt auf der Bühne.
Auf welches Theater in Berlin könnte man denn noch verzichten? Vielleicht, zum Beispiel, auf das Carrousel Theater an der Lichtenberger Parkaue?