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Aufarbeitung. Vater Gerhard Schulz (links) und Sohn Frank sprechen über die Erlebnisse im Krieg.Foto: WDR

© WDR

Dokumentation "Wir Kriegskinder": Unvergessen, unverarbeitet: Die Angst im Kopf

Der Zweite Weltkrieg hört nie auf. Eine ARD-Doku erzählt von den Traumata in deutschen Familien.

Sie sitzt einfach nur da. Ganz allein. Die Kamera ist in gebührendem Abstand positioniert, dennoch ist sie ihr sehr nahe. Elfriede Evering wartet darauf, dass ihr Ehemann Gerd vom Einkaufen nach Hause kommt. Sie sind seit 55 Jahren miteinander verheiratet. Elfriede ist 80. Sie hat den Zweiten Weltkrieg miterlebt als Kind. Mit zwölf wird sie aus dem heutigen Polen vertrieben. Während sie da so sitzt, sich windet vor Angst, beim kleinsten Geräusch zusammenzuckt, stammelt sie. Es ist ein gequälter Monolog: „Nein, isser nicht. Da steht schon wieder ein fremdes Auto. Nein, isser nicht. Ach, nein. Schon wieder ein Geräusch. Warum ist er denn noch nicht gekommen. Meine Güte, nein. Das ist schlimm!“ Dann fängt sie zu weinen an.

Bereits die eindrückliche Eingangssequenz der sehr sehenswerten Dokumentation „Wir Kriegskinder“ (Buch/Regie: Dorothe Dörholt), die den bezeichnenden Untertitel „Wie die Angst in uns weiterlebt“ trägt, macht in nur wenigen einfachen, umso mehr bezwingenden Bildern deutlich, um was es hier geht: Es ist der lange Schatten des Krieges, der auch das Leben von Elfriede beherrscht. Und somit das ihres Mannes Gerd. Nicht immer war dies so. Elfriede lebte über Jahrzehnte als Ehefrau und Mutter. Sie funktionierte. Doch im Unterbewusstsein brach sich nun, im Alter, etwas Bahn, was sie nicht länger verdrängen konnte: Elfriede sieht die Bilder des Krieges wiederkommen, sieht sich und ihre Mutter und ihre Schwester, sieht, wie ihrer Mutter das Blut am Kopf herunterläuft. Es sind Bilder des Grauens. Elfriede ist auch ein Opfer des Zweiten Weltkrieges.

Die einfühlsame Dokumentation geht einem zweiten Schicksal nach, dem der Familie Schulz: Das Ehepaar Hildegard und Gerhard Schulz hat drei erwachsene Kinder, Sohn Frank und die Zwillingsschwestern Sabine und Anke. Vater Gerhard Schulz leidet nun, im Alter, unter Depressionen und Angstattacken, hat Herzrasen und Kreislaufbeschwerden. Die drei Kinder – aus der Generation der sogenannten „Kriegsenkel“ – haben immer wieder körperliche Beschwerden, Angststörungen auch. Familiäre Anspannung herrscht. Das Trauma des Krieges wird weitergegeben, wird vererbt, fanden Wissenschaftler heraus.

Gerhard Schulz ist zehn Jahre alt, als er mit seiner Mutter aus Ostpreußen fliehen muss – der Vater ist verschollen. Dieses Offene lastet auf Herrn Schulz. Immer stärker. Urplötzlich sind die Bilder des Krieges wieder präsent: Er erzählt von „einer Trümmerlandschaft, wie eine Raupe Trümmer zur Seite schob, und dort waren die Leichenteile, und ein Arm ragte heraus.“ Er war ein Kind.

Die Familie Schulz reist schließlich nach therapeutischen Gesprächen zu fünft ins heutige Polen, in die ehemalige ostpreußische Heimat. Genau einen Kilometer von Gerhard Schulz’ Geburtsplatz wurde sein Vater hingerichtet. Genau dort steht die einzige Buche in diesem Birkenwald. Dort gräbt Gerhards Sohn Frank ein tiefes Loch in die Erde. Herr Schulz hat seinem Vater einen Abschiedsbrief geschrieben und in ein Kupfer-Kästchen eingelassen. Dieses Kästchen wirft er nun in die Grube – das Grab seines Vaters. Dem alten Mann laufen die Tränen, mit bebender Stimme verabschiedet er sich von seinem Vater, 67 Jahre nach dessen Tod, 67 Jahre nach Kriegsende.

Erst nach dieser Ostpreußen-Reise, erst nachdem er seinen Vater beerdigen konnte, setzt eine Veränderung bei Herrn Schulz ein: Er beginnt in sich zu ruhen, die Depressionen weichen. Seine Kinder reagieren darauf, sie werden entspannter werden. Wie es auch Elfriede Evering nach einer Trauma-Behandlung, bei der sie durch das Erlebte hindurchgeht und es hinter sich lässt, deutlich besser geht. Einmal, da lacht sie wieder. Thilo Wydra

„Wir Kriegskinder“, ARD, 0 Uhr

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