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Untergang eines Geheimdienstes: Gesteuerte Wut

Führte die Stasi beim Sturm auf ihre Zentrale Regie? Eine ARD-Doku fragt nach und zeigt eine spannende Chronologie der Ereignisse vom 15. Januar 1990.

Die Demonstranten drängen sich vor dem Tor der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in der Berliner Normannenstraße. Tausende sind gekommen, die Stimmung wird immer gereizter. Einige beginnen, das schwere Stahltor emporzuklettern. Gegen 17 Uhr öffnet es sich, der Demonstrantenzug stürmt auf das Gelände. 15 Minuten später sind die ersten ins Innere der Gebäude gelangt, demolieren Teile der Einrichtung, halten triumphierend Dokumente und Aktenordner in die Höhe.

Der Sturm auf die Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990 war ein wichtiges Datum der friedlichen DDR-Revolution. Der Zerstörung der Akten durch die Stasi war Einhalt geboten, die letzte Bastion des Spitzelapparates eingenommen, seine Macht war gebrochen – oder muss man sagen: sie schien gebrochen? Bis heute gibt es viele Unklarheiten über die Ereignisse dieses Tages. Zweifler und sogar Demonstrationsteilnehmer vermuten, dass die Stasi bei der Erstürmung ihre Finger im Spiel hatte. Warum sonst steuerten die Demonstranten vom Tor nicht das direkt gegenüberliegende Haus 2 an, in dem die wichtigen Akten lagerten? Warum sonst bogen sie ab, nahmen Kurs auf das Haus 18 in der Ecke des Gebäudekomplexes und begnügten sich damit, die dort untergebrachten Friseursalons, Reisebüros und Lebensmittellager zu zerlegen und unwichtige Reiseanträge zu zerfleddern? Hatte die Stasi ihre Leute an der Spitze des Zuges? Wollte sie der aufgebrachten Meute ein Ventil für ihre Wut geben, um in Ruhe weiter sensible Akten durch die Reißwölfe zu jagen?

Im ARD-Dokudrama „Sturm auf die Stasi – Untergang eines Geheimdienstes“ rekonstruieren Produzent Stephan Lamby und Regisseur Matthias Unterburg das Geschehen des 15. Januar minutiös. Sie mischen Zeitzeugeninterviews und nachgespielte Szenen mit unveröffentlichten Originalbildern und Material von Amateurfilmern. Zu Wort kommen unter anderem Hans Modrow, damals Ministerpräsident der DDR, und HansGeorg Wieck, ehemaliger Chef des Bundesnachrichtendienstes. Die spannende Chronologie der Ereignisse zeigt, wie der Tag eine Eigendynamik entwickelte, die viele überraschte – von Westjournalisten und Westgeheimdiensten bis zum Runden Tisch mit Hans Modrow und den Bürgerrechtlern. Nur Effekthaschereien wie die Krimimusik und den immer wiederkehrenden Countdown („Noch vier Stunden bis zum Sturm auf die Stasi-Zentrale“) hätte man sich sparen können.

Unterburg setzt den Tag aus vielen Einzelschicksalen zusammen. Er beginnt mit dem Ingenieur André Ohmen, der sich früh zur Arbeit aufmacht, damit er nach Feierabend rechtzeitig zur Demonstration gehen kann. Er zieht ein Rollwägelchen voller Steine hinter sich her durchs Morgengrauen – aber nicht zum Schmeißen. Von einem Sturm auf die Normannenstraße war im Demo-Aufruf des Neuen Forums nie die Rede. Eine Mauer vor dem Haupttor wollte man bauen, ein Symbol setzen, das war der Plan. Ohmens Kollegin weiß morgens noch nichts von der Aktion, an der sie später teilnehmen wird. Sie erfährt es erst während der Arbeit, wie die anderen Kollegen, die sich über Ohmens Gepäck amüsieren.

Während die Demonstranten sich langsam einfinden, trifft man in der Stasi-Zentrale längst Vorbereitungen. Seit 15 Uhr sind Gebäude geräumt worden, hinter mancher Tür vernichtet man weiter Akten. Werner Großmann, stellvertretender Minister für Staatssicherheit, ist noch heute stolz darauf, wie die Stasi das Volk hinters Licht geführt hat: „Uns ist einiges gelungen in dieser Richtung.“ Man sieht MfS-Mitarbeiter Ulrich Weiss beim Versuch, seine Abteilung zu schützen, mit einem Pappschild an der Tür: „Auslandsaufklärung. Streng geheim. Betreten verboten!“ Seine Generäle sitzen derweil in einer Wohnung gegenüber und werden telefonisch über die Vorgänge informiert.

Das Dokudrama schafft es nicht, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Weder, was die Rolle der Stasi bei ihrer Erstürmung anbelangt, noch, was die Vermutungen angeht, dass auch westliche Geheimdienste am 15. Januar ihre Leute in der Stasi-Zentrale hatten. Es bleibt bei Andeutungen, die Spekulationen nähren, aber keine Gewissheit schaffen.

Vielleicht können solche Vorgänge gar nicht vollständig aufgeklärt werden. „Die Welt der Geheimdienste ist eine sehr verschlossene, auch heute noch“, sagt Produzent Lamby. „Da gibt es keine Wahrheit.“ Deshalb sucht der Film die Wahrheit woanders: in den Erlebnissen der Zeitzeugen, in Mosaiksteinchen, die Eindrücke vom Geschehen am 15. Januar 1990 vermitteln können.

„Sturm auf die Stasi – Untergang eines Geheimdienstes“, ARD, 21 Uhr 45.

Christian Helten

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