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Geschichte: Aus der Mode, aus dem Sinn

Und dann sind sie plötzlich weg. Für immer? Ein neues Lexikon listet ein paar verschwundene Dinge unseres Alltags auf

DAS EINKAUFSNETZ

Es hat geregnet … nein, wahrscheinlich hat es gestürmt. Es muß geregnet, gestürmt, geblitzt und gedonnert haben, am 29. Januar des Jahres 1938, als Paul Schlack in Berlin-Lichterfelde die Polymerisierbarkeit des Aminocaprolactams entdeckte. Was sich so wissenschaftlich und eher theoretisch anhört, sollte die Welt verändern, vor allem die unserer Omas.

Dr. Schlack, später Professor Schlack, hatte die Kunstfaser Perlon entdeckt. Das rührte sogar den „Führer“, der erst einmal bestimmte, daß diese Entdeckung geheimzuhalten sei. Die deutsche Rüstungsindustrie wartete auf Perlon: Die Amerikaner verfügten ja bereits über Nylon. Wie sonst sollten deutsche Fallschirmspringer sicher auf feindlichem Boden landen, wenn nicht mit Fallschirmen aus deutschem Perlon? Das allerdings interessierte unsere Großmütter eher weniger. Sie horchten das erste Mal auf, als Damenstrümpfe aus der Kunstfaser gefertigt wurden, auch wenn sich viele von ihnen diese nach dem Krieg gar nicht leisten konnten.

Den Durchbruch erlebte die Kunstfaser mit einem anderen Produkt, dem Einkaufsnetz. Die Möglichkeit, ein Kunstfasernetz in der Tasche zu haben, das keinen Platz verschlang, aber bei Bedarf groß und stabil genug war, um eine Vielzahl von Waren aufzunehmen, und das zu einem lächerlichen Preis, überzeugte nicht nur Großmütter. Gibt es eine andere Erklärung für das Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre? Wie hätten die Menschen sonst die vielen neuen Produkte nach Hause schleppen können?

Der große Erfolg von Perlon ließ der DDR keine Ruhe. Auch sie wollte nun ihre eigene Kunstfaser. Endlich – 1959 – war es soweit, das sozialistische Deutschland schuf Dederon. In den folgenden Jahren entwickelte sich ein zwischen beiden deutschen Staaten gnadenlos geführter Kampf der Systeme um die Vorherrschaft bei der Produktion von Einkaufsnetzen, bei dem die Bundesrepublik die Nase zunächst leicht vorn hatte. Die Netze gab es nun in vielen Größen, allen Farben und mit verschiedenen Maschenformen.

Mit Einführung der Plastiktüten in den Supermärkten wurden die Einkaufsnetze im Westen allmählich verdrängt. Nur einige alte Frauen nutzten sie weiterhin. Im Osten kam der Einbruch der Einkaufsnetznutzung erst mit der Erdölkrise der siebziger Jahre, als die Sowjetunion die Ölzufuhr drosselte und damit der Rohstoff für Dederon knapp wurde. Das klassische Kunstfaser-Einkaufsnetz hat sich davon nie mehr erholt. Die Firma Manufactum bietet zwar heutzutage in ihrem Sortiment ein Einkaufsnetz an, allerdings besteht es weder aus Perlon noch aus Dederon, sondern aus Eisengarn. Und es kostet über sieben Euro. Es ist damit so etwas wie der Mercedes unter den Einkaufsnetzen. Hätten unsere Omas nie gekauft!

DAS FLUGTICKET

Kein Ticket, keine Mitnahme. So war es jahrzehntelang in der Luftfahrt. Und viele haben es selber schmerzlich erfahren, daß sie nicht an Bord kamen, nur weil sie das Ticket, auf ihren Namen ausgestellt, auf dem Küchentisch vergessen hatten. Denn dieses Dokument war ein juristisch relevanter Beförderungsvertrag, ohne dessen Besitz der Fluggast schnell das Nachsehen hatte. Das galt auch für die Besatzungen, die ein sogenanntes „Crew Manifest“ bekamen.

Seit Juni 2008 ist das alles vorbei. Der Flugschein, bestehend aus mehreren dünnen Durchschlagseiten, ist für immer abgeschafft. Die Billigairlines waren längst vorangegangen: Bei ihnen konnte man den Beförderungsvertrag schon seit den späten Neunzigern elektronisch im Internet abschließen. Zum Einchecken reichte eine E-Mail beziehungsweise ein Code, denn mit Personalausweis oder Reisepaß ließ sich die Identität der Passagiere ohnehin verifizieren. Im Jahr 2004 lag der Anteil dieser Tickets bei 16 Prozent, im Dezember 2007 waren bereits 92 Prozent aller Tickets nur noch virtuell vorhanden.

Auf diese Weise läßt sich viel Geld sparen. Produktion und Abrechnung eines Papiertickets kosteten bis zu zehn Dollar, virtuelle Tickets, elektronisch abgerechnet, kosten nur noch einen Dollar. Bis zu drei Milliarden Dollar jährlich wollen die Fluggesellschaften so einsparen. Auch ökologisch war das "alte" Ticket Wahnsinn. Im Jahr 2005 wurden 285 Millionen davon hergestellt, dafür mußten 50 000 Bäume ihr Leben lassen. (Noch hat allerdings niemand ausgerechnet, wie viele Bäume nun sterben müssen, da die Passagiere mehrseitige Buchungsbestätigungen und Rechnungen am Computer ausdrucken.)

(. . .) Mittlerweile funktioniert das elektronische Ticket selbst auf der beschaulichen kenianischen Insel Manda. Immerhin hat der dortige Flughafen, der nur tagsüber angesteuert werden darf, dessen Schalterhalle mit Stroh bedeckt ist und bei dem die Gepäckaufgabe unter Zuhilfenahme einer rostigen Viehwaage im Freien vorgenommen wird, noch keine eigene Stromversorgung. Seinen Betreibern kam angesichts der Entwicklung in der modernen Kommunikationstechnologie eine geniale Idee: Sie lassen die Passagierlisten in den Büros der Fluggesellschaften auf der Nachbarinsel Lamu ausdrucken und per Boot zur Schalterhalle bringen. Dort hakt ein Mitarbeiter die Namen der Passagiere, die sich mit ihrem Reisepaß ausweisen, einzeln auf den Listen ab. (. . .)

Das Papierticket ist verschwunden. Im Juni 2008 wurden noch 32 Millionen übriggebliebene Blankotickets eingestampft und zu Altpapier verarbeitet. Der CEO der IATA, der Italiener Giovanni Bisignani, erklärte das Papierflugticket mittlerweile zum Museumsartikel.Die Bordkarte wird es wohl als nächstes treffen. Die Lufthansa kann diese bereits aufs Handy schicken.

DER KAUGUMMIAUTOMAT ETC.

(. . .) Und schließlich gab es Automaten, die Angriffe auf die härteste Substanz bargen, die unser Körper hervorbringen kann – die Zähne. Deshalb ermahnte Mutti uns, diesen Gerätschaften fernzubleiben. Auch aus hygienischen Gründen. Doch wir waren schwach. Gerieten wir in den Einzugsbereich dieser roten Kästen voller bunter Kugeln, waren alle Ermahnungen vergessen, und wir kramten in den Taschen unserer Lederhosen nach einem Zehnpfennigstück. Über die Republik verstreut, flankierten die Kisten sirenengleich die Schulwege.

Schätzungen zufolge hingen im Jahr 2003 noch 280 000 bis 800 000 dieser Gerätschaften an den Fassaden deutscher Häuser. Längst sind sie leer, gleichen den Schädeln kaputter Roboter, die man an die Wand gehängt hat und aus deren erloschenen Augen die Mahnung spricht: Alles Tun ist leer und eitel. Alle Begierde sinnlos.

Erst einen, später zwei Groschen mußte man in den Mechanismus einführen, den oft hakelnden verchromten Knauf drehen, um dann vorsichtig die Klappe anzuheben. Was würde in der Öffnung liegen? Ein Miniaturfeuerzeug? Ein Taschenmesser? Oder doch nur ein schnödes, kugelförmiges Kaugummi mit fünfzehn Millimeter Durchmesser? Die Hoffnung starb auch hier zuletzt.

Doch in Zeiten, in denen kleistergelbes und erdferkelrosafarbenes Eßpapier als Delikatesse galt, mundete selbst ein Kaugummi in den Geschmacksrichtungen „Aliengekröse“ und „Blumenerdebrei“ vorzüglich. Wie Perlentaucher ihren wertvollsten Fund, trug man es zuerst ein Stück des Weges in der Hand und rang dabei erfolgreich die Enttäuschung nieder, nur ein Kaugummi erhascht zu haben. Die Kugel färbte die Handinnenflächen derweil rot, gelb, orange, grün oder blau, und was einen dann erwartete, das wußte man: harte Kau- und Mahlarbeit bei magerer geschmacklicher Ausbeute, ernste Probleme bei der Blasenbildung und minimale Knalleffekte, dazu ständig Bißwunden in der Zunge. Am nächsten Tag meldete sich die Sehnsucht trotzdem wieder, wenn man sich der Apparatur näherte.

Die kleinen roten Kästen locken heute niemanden mehr. Nachdem 1974 das Überraschungsei seinen süßen Triumphzug antrat, verloren die Kinder nach und nach den Spaß an den Automaten. Außerdem machte Hubba Bubba so schöne Blasen. (. . .)

DER PATERNOSTER

In Amerika hat er nie Fuß fassen können, in Europa wird er nicht mehr gebaut, und Deutschland wartet seit über einem Jahrzehnt auf seinen endgültigen Verschleiß. Dann wird er zerstückelt auf die Müllhalden und Schrottplätze wandern.

Der Paternoster war, ist und bleibt nicht das sicherste Beförderungsmittel für Personen, die vom ersten in den zweiten Stock gelangen wollen. Zehnmal betet der brave Katholik denn auch das Ave-Maria, die elfte Perle auf der Schnur ist dem Vaterunser, auf Latein: dem Paternoster, vorbehalten. Daher fungierte der Rosenkranz als Vorbild für dieses ehemals revolutionäre Transportsystem, das in seinen Grundzügen schon im Bergbau Anwendung fand.

Noch schönere Bezeichnungen ergaben sich überall dort, wo im innerbetrieblichen Transportwesen das Zweiklassensystem vorherrschte: Die einen hatten den Proletenbagger zu benutzen, die anderen fuhren flugs mit dem Bonzenheber zu ihrem Arbeitsplatz.

Dabei geht es nicht um Zeitersparnis. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von dreißig Zentimetern pro Sekunde bräuchte eine Kabine des 1876 in London zunächst zur Paketbeförderung eingeführten Transportsystems eine knappe Viertelstunde, um die 259 Meter des höchsten deutschen Gebäudes, des Towers einer Bank in Frankfurt am Main, emporzusteigen.

Täglich eine zusätzliche halbe Stunde in einem knarzenden Holzkasten durch die Gegend zu gondeln ist nicht jedermanns Sache. Zumal nur ein Mitfahrer erlaubt ist. Der Rekord soll laut „Spiegel“ allerdings bei vierzehn Passagieren liegen. Nach einer feuchtfröhlichen Feier in der Hamburger Wirtschaftsbehörde seien die ersten in die Tiefe der noch nicht vollends aufgetauchten Kabine gesprungen, die letzten wurden dann hochgezogen. Wer will da Nummer 15 sein?

Denn immer wieder gab es diese häßlichen Unfälle: Man hörte von Fensterputzern mit Kaffeebecher in der Hand und Leiter über der Schulter, die meinten, im letzten Augenblick noch in die Kabine einsteigen zu müssen – Splitterbrüche in Holz und Schlüsselbein waren die Folge. Von Scherzkeksen, die gebückt kuckuck! und winkewinke! zu der im Stockwerk verbliebenen Person machen wollten und die Rübe dabei zu weit vorschoben. Wie kopflos! Verstiegenen, die ihren Mitarbeitern bis zur letzten Sekunde mit dem Gesicht zum Flur gewandt noch Anweisungen zuriefen, um dann beherzt in die bodenlose Leere der Gondelmitte einzutreten. Knacks! macht der Fuß, zapp! die Außenbänder.

Von 1977 bis 1986 wurden im Zusammenhang mit den damals noch existierenden fünfhundert Paternostern dreiundzwanzig Unfälle mit Verletzten registriert, drei Menschen kamen um. „Das sind 26 Unfallopfer zuviel!“ befand der deutsche Aufzugsausschuß und wollte 1988 dem Paternoster nur noch eine Gnadenfrist bis 1994 gewähren. Das rief den „Verein zur Rettung der letzten Personenumlaufaufzüge“ auf den Plan: Autofahren und zu Fuß gehen müßten dann ja wohl auch verboten werden; außerdem ermögliche die Fortbewegung mit der Geschwindigkeit von etwa einem Kilometer pro Stunde eine „behaglich-behäbige Raumerfahrung“, die sonst nirgends mehr zu machen sei. In den Ministerien und anderen Hochburgen der Staatsdiener kreisten Unterschriftenlisten. Eine bessere Lobby kann man nicht haben. Nostalgie tat ihr übriges. Die Argumente verfingen. Der Bundesrat kassierte das Gesetz. (. . .)

DER TEPPICHKLOPFER

Flagellanten, aufgemerkt! Die Teppichklopfer werden knapp wie einst die Marterpfähle im Land des Weißen Mannes. Jetzt heißt es: Rattan- oder Weidenvorräte anlegen und lernen, wie man einen Pracker (österreichisch) bosselt (lustiges Verb). Was der Staubsauger inhalieren kann, muß der Klopfer nicht mehr aufwirbeln. Der Lebensraum der tennisschlägerartigen Geflechte wird seit Mitte des letzten Jahrhunderts daher immer kleiner.

Noch 1952 ließen sich mit dem wöchentlichen Züchtigen von Schlingen und Webmustern bis zu 90 Pfennige pro Stunde verdienen. Heute haben junge Menschen sich – wenn überhaupt mit der Materie vertraut – an Plastikimitate gewöhnt, die in Farbe und Kontur eher Außerirdischen gleichen. Die naturfarbenen Teppichklopfer hatten wenigstens Ähnlichkeit mit tibetischen Glücksknoten, auch wenn sie in autoritären Haushalten bisweilen dem Schmerz und Leid der Zöglinge geweiht waren.

Noch bis 1985 besagte die Berliner Bauordnung, daß bei Errichtung von mehr als drei Wohnungen eine Teppichstange fußläufig erreichbar aufzustellen sei. Mittagsruhe, das verstand sich von selbst, herrschte von 13 bis 15 Uhr. Auch war das Wummern, Bimsen und Wuppen und was sonst noch so statt Klopfen gebräuchlich ist, nur an festgelegten Tagen gestattet. Kinder turnten alle Tage am Gestänge.

Kaum zehn Jahre später rosteten die graulackierten Stangen, splitterte der Lack, mußten begeisterte Klopfer sich schon gerichtlich ihr Recht auf porentiefste Reinigung erstreiten: Das Amtsgericht Kassel hatte 1994 darüber zu entscheiden, inwieweit es einem Mieter gestattet sei, auf seinem Balkon bis zu dreimal wöchentlich seine Badematten auszuklopfen, die – laut Kläger – so viel Staubflusen absonderten, daß die Blumen eine Etage drunter kein Sonnenlicht mehr bekamen. Das Gericht befand, der Beklagte dürfe weiter auf seine Vorleger eindreschen, bat die beiden Parteien aber, sich künftig wegen Pipifax außergerichtlich zu verständigen. Der Nachsatz „Sonst setzt''s was!“ ist nur mündlich überliefert.

Heute stellen nicht einmal mehr Blindenwerkstätten die Klopfer her. Die wenigen auf Dachböden und in Kellern erhaltenen Exemplare werden langsam spröde. Dennoch empfiehlt es sich, sie aufzubewahren. So lassen sich im Jahr leicht bis zu tausend Euro sparen: Wer eine Stunde Teppich geklopft hat, muß danach gewiß nicht mehr ins Fitneßstudio. Auch zur Tätigkeit des Teppichklopfens passende Nylonkittel sind weitaus kostengünstiger als Markensportwäsche. Und was an Dreck da rauskommt, wenn man den Teppich klopft – herrlich. Da hat das Dasein wieder Sinn.

Die Texte sind Auszüge aus dem heute erscheinenden Buch: Volker Wieprecht, Robert Skuppin, „Das Lexikon der verschwundenen Dinge“, Rowohlt Berlin, 17, 90 Euro. Weil auch die alte Rechtschreibung zu den verschwundenen Dingen gehört, ist das Buch folgerichtig genau in dieser gesetzt.

Volker Wiebrecht, Robert Skuppin

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