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Erfolgreich begrünt: Andernach: Ein Beet von einer Stadt

Am Rathaus wachsen Trauben, Salat umrundet die Burgruine. Seit ganz Andernach Essbares anpflanzt, kommen Neugierige aus aller Welt.

Am meisten überrascht ist die Stadt selbst. Da liegt Andernach seit über 2000 Jahren am Mittelrhein, wenige Biegungen flussbwärts von Koblenz, malerisch, aber unbedeutend. Sie haben Probleme gemeistert, die größer sind als die Frage nach öffentlichem Grün. Teurer auch. Sie haben endlich einen Hochwasserschutz, nachdem Jahrzehnte das Wasser die Hotels in der ersten Reihe immer mal wieder komplett durchspülte. Sie besitzen mit Thyssen-Krupp Rasselstein das einzige Weißblechwerk Deutschlands. Sie haben einen Geysir, der alle 100 Minuten acht Minuten lang eine 60 Meter hohe Fontäne in die Luft sprüht. Die steht im Guiness-Buch der Rekorde als welthöchster Kaltwassergeysir.

Aber die Leute flippen aus wegen der Bohnen. Und der Kartoffeln. Und wegen des Spalierobstes an der Stadtmauer, das jeder ernten darf.

Frankfurt, Wien, Rotterdam sprachen vor. Filmteams reisten an. Touren mit Reisebussen wurden organisiert, seitdem die Stadt 2010 beschlossen hat, sich mit dem Konzept „Die essbare Stadt“ neu zu erfinden. Als sie damit begann, 101 Tomatensorten in die Erde zu setzen. Und zwar in die öffentlichen Beete. An die Stadtmauer. In den Burggraben. Als sie Salat und Kartoffeln setzten. Mithilfe sei erwünscht. Pflücken erlaubt.

Lutz Kosack, Diplom-Geoökologe der Stadt Andernach, blickt von seinem holzgetäfelten Dachbüro im Rathaus über das Stadtzentrum hinweg direkt auf die Hänge der anderen Rheinseite. Ein alter Steinbruch ist zu sehen, aus dem man Steine für den Kölner Dom brach, ehemalige Weinhänge, heute Heimat der roten Fetthenne und des gelben Ginsters.

Jetzt, wo die Sache so ein Erfolg geworden ist, machten sie sich natürlich alle zu eigen, sagt er. Die FDP lobt: Sehr freiheitlich, der Bürger wird in die Verantwortung genommen. Die SPD betont, dass Langzeitarbeitslose integriert werden. Die Grünen sagen, die Erhaltung der Arten sei immer schon ihres und die CDU meldete, Werte würden auch erhalten. Unter vielen Medienbesuchen waren Journalisten vom russischen Fernsehen. Die sagten: „Kolchose. Kennen wir.“

Und so will die Idee, die erst so exotisch begann, nun niemandem mehr fremd sein. Dabei wirkte es wie ein Aprilscherz, als sie 2010 verkündeten, Andernach in eine „essbare Stadt“ zu verwandeln. Hunde würden auf das Gemüse pinkeln, hieß es. Vandalismus sei zu erwarten. Was, wenn die „Frühpflücker“ sich die unreifen Früchte sichern wollen? Oder wenn niemand sie erntet und sie an den Sträuchern verfaulen? Und dann ausgerechnet Tomaten! Was, wenn die Leute mit den Tomaten werfen?

Es ist ein grauer Montag im Mai, und in Andernach werden heute die Bohnenstangen aufgebunden. Einer hält die Leiter des anderen. Im Nachhinein wirken die Ängste bizarr, als würden die Bürger Andernachs, die noch nie als besonders widerständig aufgefallen sind, plötzlich durch die Anwesenheit von Gemüse verleitet, mit Tomaten um sich zu schmeißen. Befremdlich fand Kosack auch die Frage, wer haftungsrechtlich verantwortlich sei, wenn jemand vergiftetes Gemüse auslege. Der Stadtrat brachte das Wort „Steuerverschwendung“ ins Spiel.

Lutz Kosack fragte sich: Können auch städtische Angestellte Guerilla-Gärtner sein? Bevor sie loslegten, berechneten sie die Flächen, die man potenziell begrünen konnte. Mit Dächern, Fassaden, öffentlichen Grünflächen und Brachen kamen sie – ungeachtet der Eigentumsverhältnisse – auf sagenhafte 30 Hektar. 30 Hektar mögliche urbane Landwirtschaft.

Bei den Bewohnern diagnostizierten sie altersbedingte Hemmungen. Kosack sah alte Damen vor einem herrlich prunkenden Salatbeet stehen und sagen: „Das sieht ja aus wie im Krieg.“ Die Assoziationen mit dem Nutzgarten sind erstaunlich tief verwurzelt. Man pflegte ihn aus Notwendigkeit, nicht aus Vergnügen.

Heute schämen sich manche, etwas zu pflücken. Als würde es bedeuten, sie seien darauf angewiesen. Dabei soll der heutige Nutzgarten ja ein Lustgarten sein. Lutz Kosack ermutigt die Leute, sich Samen für den eigenen Garten zu vermehren. Es geht darum, „Betreten verboten“ mit „Pflücken erlaubt“ zu ersetzen. Das Gemeinschaftserlebnis zu stärken. „Wir geben den öffentlichen Raum den Bürgern zurück.“

Für Kosack selbst waren diese Gedanken alle nicht neu. Sie wurzeln in der Zeit von Tschernobyl und saurem Regen, Sandoz und Ciba Geigy, jeden Moment drohte der deutsche Wald zu sterben, und Wahlplakate hatten Umweltthemen. Der junge Lutz Kosack gründete damals in Bonn den BUND mit und betrieb dort ein kleines Ökozentrum, das Bücher, Saatgut und Recycling-Klopapier verkaufte. Das Klopapier ging am besten. Damit haben sie den ganzen Laden finanziert. Er promovierte in Bonn über die Rheinufervegetation. Er ging manchmal botanisieren.

Kosack verfolgte, wie in den Schrebergärten der Abgrenzungsgedanke ungut die Oberhand gewann. Wie Gemeinschaftsgärten ausgerufen wurden. Dass ein Community-Garden cool klang und nur noch durch das Guerilla-Gardening gesteigert werden konnte. Dass Michelle Obama hinter dem Weißen Haus zum Spaten griff. 2008 hatte sich in Nordengland die Stadt Todmorden dem Begriff „Incredible Edible“ unterworfen. Zwei Frauen riefen privat das Ziel aus, die ganze heimische Gemüsenachfrage innerstädtisch zu decken. Es gab auf der ganzen Welt eine große Begeisterung für städtisches Gärtnern, aber immer war die Initiative privat, nie war es eine ganze Stadt, die mit ihrer Verwaltung diese Ideen übernahm.

2010 war die Zeit in Andernach reif. Wechselbeete müssen vier Mal im Jahr neu bepflanzt werden. Normaler Trittrasen wird 14 Mal im Jahr gemäht. Aber nun gab es ökologische, ästhetische, soziale, finanzielle und stadtplanerische Gründe, sich dagegen zu entscheiden.

Kosack wollte aufhören mit der Zweiteilung aus „grauer Stadt“ und „gutem Land“ und die Landwirtschaft in die Stadt zurückholen. Weinstöcke haben sie von außen an das 70er-Jahre-Rathaus angelegt wie Lunten. Sie pflanzten auch auf den Hang am Burggraben Wein. Salat umrundete in Kurven die alte Burgruine. Sie stellten Bohnenstangen auf, und im Sommer wässerten sie. Und weil die alte Stadtmauer auch nach Süden ausgerichtet ist, eignet sie sich hervorragend für Spalierobst und sogar Pfirsiche. Kosacks Ehrgeiz als Botaniker war geweckt, jeder Platz rief nach seiner speziellen Bepflanzung. Er jubelt, dass er die Möglichkeit hat, hier seltene Gehölze zu setzen, dieses Frühjahr 800 Sträucher und Beerenobst. Es gibt nun Kaki, Granatapfel, Feige, Bitterorange, Mispel, Quitte, Esskastanien und Knackmandeln aus der Pfalz.

Die Langzeitarbeitslosen, sagt Kosack, arbeiteten 30 Stunden die Woche und noch nie hätten sie so viel Lob für ihre Arbeit bekommen. Der alte Burggraben, sagt er, „war das, was man in der Stadtplanung einen Angstraum nennt“. Zwielichtige Gestalten trafen sich dort, die Leute warfen Müll hinein. Jetzt ist er ein Lieblingsort.

Sie sind gerade dabei, einen Haufen Probleme ihrer Stadt – Probleme, die jede Stadt hat – auf einmal zu lösen. Es sieht aus, als gebe es in dieser Sache nur Gewinner. Sie bewirtschaften ja erst etwa 5000 Quadratmeter – und die Ernte ist noch der kleinste Ertrag. Aber natürlich waren einige Besucher enttäuscht, als sie aus ihren Bussen kletterten und glaubten, sie könnten gleich reinbeißen, nur weil Andernach jetzt „Die essbare Stadt“ hieß. Als sie dann die versiegelte Fußgängerzone sahen, in der auch die 80er-Jahre Betonkübel stehen mit – Blumen! – drin.

Aber aus der Perspektive eines Baums sind drei Jahre gar keine Zeit. Die essbare Stadt ist noch halb Utopie. Kosack hat nur eine kleine Truppe von sechs Langzeitarbeitslosen, einen Gärtnermeister, die Garten-AG des örtlichen Gymnasiums und ein paar Bürger zur Verfügung. Es ist sein Ziel, jedes Jahr zwei Beete mehr in das Konzept mit einzubeziehen. Kosack ist dabei froh, dass er selbst nicht in Andernach wohnt. Er könnte sich sonst kaum beherrschen, käme er an einem Beet vorbei, kein Unkraut zu ziehen.

Dann überreicht Lutz Kosack seine Visitenkarte. In dem Zellstoff befinden sich Samen. Sobald man seine Telefonnummer auswendig kann, kann man die Karte in den Boden stecken, wo sie zerfällt. Dann keimen dort Blumen.

Nur hier ist so etwas möglich, glaubt man in Andernach, in einer Stadt mit bloß 30 000 Einwohnern und schlanker Verwaltung. Mit einem schnittigen SPD-Bürgermeister, der von den „Blühräumen“ seiner Mitarbeiter spricht und diesen Erfolg für einen Erfolg der Führung hält.

In Achim Hüttens Büro sind die Pflanzen noch nicht essbar. Als eine Pflanze seinem Wintergarten zu Hause entwuchs, hat er sie mit hierher gebracht. So einfach fallen hier Entscheidungen. „Demokratie steht da manchmal im Weg“, sagt Hütten, und dass sie froh sind, dass die erste Test-Bepflanzung für die essbare Stadt einfach mal entschieden wurde, ohne vorher in Ausschüssen zerrieben worden zu sein. Hütten ließ sich begeistern von den Ideen seiner Mitarbeiter, Kosack brachte ihm die „Ästhetik der Nutzpflanzen“ bei. „Was mich überzeugte: der Mangold.“ Wie die roten Stiele so malerisch ins Grün der Blätter übergingen, ein rechter Schmuck auch für einen Verkehrskreisel.

Finanziell überzeugte ihn die Staude: 25 Prozent Pflegeaufwand im Vergleich zu vierfacher Wechselbepflanzung. Im Herbst werde sie „klein gemacht“, im Sommer wächst sie wieder. Und nun ist auch noch der Vandalismus so gut wie verschwunden.

Klaus Neumann sitzt an der Beuth-Hochschule in Berlin in seinem Büro und wundert sich überhaupt nicht über die riesige Resonanz der kleinen Stadt: „Es geht nicht um Bäume, sondern um den Strukturwandel in der Stadt.“ Das ist das eigentliche, zugrunde liegende Thema. Dem Grün in der Stadt komme heute eine ganz neue Rolle zu. Es ist entscheidend im Kampf um Lebensqualität.

Neumann forscht darüber, auf welche Weise das Grün für die Stadt von einem Kosten- zum Nutzenfaktor wird. Längst sieht man auf der ganzen Welt Beispiele. Es werden ja keine feudalen, repräsentativen Gärten mehr angelegt in den Städten. Nach der Industrialisierung gab es die sozialen Bewegungen, die Volksparks, die Schrebergärten für die Armen, und jetzt ändert sich gerade wieder etwas. In New York waren die erbittertsten Gegner der High Line, der zum Park begrünten Eisenbahntrasse, die Immobilienentwickler. Sie wollten auf dem Gelände lieber bauen. Nun aber ist dieser Park ein Riesenerfolg. Touristen kommen, und die Immobilienmakler machen trotzdem ihr Geschäft, denn die Preise für ein „Home on the High Line“ haben extrem angezogen.

Plötzlich hat sich Andernach an die Spitze der Bewegung gesetzt. Sehen sie sich also als Teil einer Entwicklung, die von den Community-Gärten in Detroit über die High Line in Manhattan, über die Prinzessinnengärten in Berlin direkt zu ihnen führt? „Die Andernacher sehen sich im Moment auf der Welle des Erfolgs.“ Sie dürften jetzt nicht nachlassen, sagt Neumann. Nicht darauf vertrauen, dass alles ein Selbstläufer sei. Das wird er ihnen sagen, wenn sie ab dem 13. Juni zum Thema einen zweitägigen Kongress veranstalten.

In der Welt werden sie gefeiert für etwas, das die Bevölkerung selbst noch nicht richtig versteht. „Als hätten sie noch nie Salat gesehen“, sagt Gärtnermeister Eberlein. Der Fachmann wirkt entgeistert. Hat er nicht sein ganzes Leben Pflanzen gesetzt? Plötzlich ist das spektakulär. Eberlein leitet die Truppe an, die heute Bohnenstangen aufstellt. Gesetzt werden: Rotkohl, Blumenkohl, Sellerie, Wirsing ... „Fenchel ist ideal“, sagt Eberlein, „kaum Schädlinge.“ Trotzdem pflanze ihn kaum jemand in privaten Gärten.

In diesem Jahr neu ist das Hühnerhaus im Burggraben, acht Hühner legen jeden Tag ein Ei. Stundenlang stünden die Leute oben auf der Brücke und sähen zu. „Als hätten sie noch nie ein Huhn gesehen.“

2013 steht in Andernach im Zeichen des Kohls. Das Jahr mit den Zwiebeln, sagt Eberlein, war kein so großer Erfolg. Die Leute haben das oberirdische Grün für Schnittlauch gehalten und viel zu früh abgeschnitten. Was ja nur daran liegt, dass die Leute gar nicht mehr wissen, wie Gemüse wächst. Man solle es, rät Eberlein, erst ernten, „wenn es aussieht wie im Supermarkt.“

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