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Friedrich Haarmann (Mitte).

© picture-alliance / dpa

Friedrich Haarmann: Der Werwolf von Hannover

Aus einer Wohnung dringen Säge- und Klopfgeräusche, die Polizei sucht 1924 nach verschwundenen Männern. Hat Friedrich Haarmann diese alle totgebissen?

Wer heute den Hauptbahnhof von Hannover durch dessen rückwärtigen Ausgang verlässt, findet sich auf dem Raschplatz wieder. Gegenüber ein Busbahnhof, rechts eine Disco, links ein Supermarkt. Nichts erinnert daran, dass hier einmal der berühmteste Kriminelle der Stadt mit dem Fallbeil geköpft wurde: Am frühen Morgen des 15. April 1925 stand Friedrich Heinrich Karl Haarmann im Hof des Gerichtsgefängnisses auf dem Schafott und sprach seine letzten Worte: „Auf Wiedersehen“.

Die Presse nannte ihn damals den „Schlächter von Hannover“ oder auch: den „Werwolf“. Ein Gerichtsreporter der „Vossischen Zeitung“ beschrieb ihn als mittelgroßen, feisten Mann mit seitlich glatt gescheiteltem Haar sowie getrimmtem Schnurrbart. Auffallend sei die Jugendlichkeit seiner Erscheinung: „Den 45-Jährigen konnte man für einen Menschen von 30 Jahren halten“. Theodor Lessing, der Kulturphilosoph und Privatdozent der Technischen Hochschule Hannover, der den Prozess intensiv begleitet hat und später ein Buch zum Fall veröffentlichen wird, findet Haarmann „nicht unsympathisch, zuvorkommend, mit gepflegter Erscheinung“. Wie ist es nur möglich, dass dieser Mann mindestens 24 junge Männer und Knaben zwischen 10 und 22 Jahren mit einem gezielten Biss in die Kehle ermordet hat?

Haarmanns Fall gerät zum Medienereignis. Zwar gibt es noch weitere Massenmörder, deren Taten in den frühen 1920er Jahren ganze Zeitungsseiten füllen (siehe Kasten), die Öffentlichkeit bewegt er aber deutlich intensiver. Das liegt nicht nur an der Art, wie Haarmann seine Opfer getötet hat, sondern auch an den für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden der Kriminalpolizei.

Zunächst bedarf es jedoch mehrerer Zufälle, Haarmanns Verbrechen ans Licht zu bringen. In der Leine finden spielende Kinder zwischen Mai und Juni 1924 mehrere menschliche Schädel. Erst glauben die Beamten der Polizei, es handle sich um die Überreste Ertrunkener. Doch Kriminalinspektor Hermann Lange ist anderer Meinung. Gerade ist er aus Bochum nach Hannover versetzt worden, als Urlaubsvertretung seines Chefs führt er alle Hannoveraner Kriminaldezernate. Bei der Durchsicht der Akten stößt er auf die Berichte zu den Schädelfunden und ist gleich alarmiert. Hermann Lange glaubt nicht an einen Zufall, lässt die Schädel unverzüglich in die Gerichtsmedizin bringen, wo diese von dem Pathologen Dr. Schackwitz untersucht werden. Um sicherzugehen, fahren Lange und Schackwitz anschließend an die Universität nach Göttingen, um auch die Expertise von Geheimrat Dr. Schulz, einer chirurgischen Koryphäe, einzuholen. Danach ist klar: Die Schädel wurden mit einem scharfen Messer vom Rumpf abgeschnitten, die Knochen lassen sich alle jungen Männern zuordnen. Bei einem Großeinsatz von Feuerwehr und Polizei, an dem sich auch viele Hannoveraner Bürger beteiligen, werden schließlich über 500 Knochen von mindestens 22 ausschließlich männlichen Personen in der Leine gefunden. Für Kriminalinspektor Lange deutet damit alles auf einen homosexuellen Triebtäter hin.

Friedrich Haarmann ist als großzügiger und freundlicher Mensch bekannt. Er hat es zu bescheidenem Wohlstand gebracht, betreibt einen Altkleiderhandel mit selbst gestohlenen Wertgegenständen und Hehlerware. Auf dem Schwarzmarkt verkauft er Fleischkonserven. Zu dieser Zeit, gerade zwei Jahre nach der Hyperinflation, die breite Schichten des Bürgertums arm gemacht hat, ist Fleisch für viele Menschen ein kaum erschwingliches Nahrungsmittel. Um so dankbarer sind sie, wenn sie von Haarmann Fleischkonserven zu gemäßigten Preisen kaufen können. Mit dem angeblichen Pferdefleisch zweiter Wahl beliefert er Restaurants und Privatpersonen. Niemand fragt, woher das Fleisch eigentlich stammt. Haarmann lebt zu dieser Zeit in einem einfachen Mansardenzimmer, Rote Reihe, Hausnummer 2, in der verwinkelten und dunklen Hannoverschen Altstadt. Seine Wohnung befindet sich in der Nähe des Kröpke, eines bekannten Kaffeehauses am Hauptbahnhof, in dessen Umgebung der Jungenstrich von Hannover zu finden ist.

In seiner Wohnung gehen junge Männer ein und aus. Auch die Polizei weiß von seiner sexuellen Vorliebe für schöne Jungen. Die Nachbarn stellen Fragen, doch Haarmann zeigt jedes Mal einen offiziell wirkenden Ausweis, der ihm bescheinigt, für die Polizei zu arbeiten. Und er erklärt, er hole aus reiner Güte die Jungen von der Straße weg.

Den Ausweis hat er sich selbst ausgestellt. Er verschafft Haarmann Zugang zu den Wartebereichen und Bahnsteigen des Bahnhofs, die man sonst nur mit einem gültigen Ticket betreten kann. Hier findet der „schöne Fritz“, wie er von den sogenannten Puppenjungs, den Strichern, genannt wird, seine Opfer. Häufig zusammen mit Hans Grans, seinem 22 Jahre jüngeren Geliebten, dem er hörig ist. In den Wirren der 1920er Jahre interessieren die von Not, Hunger und Folgen des Ersten Weltkrieges entwurzelten Jugendlichen nicht weiter. Die strenge Moral der Kaiserzeit ist zusammengebrochen, der Bahnhof von Hannover zu einem Drehkreuz der Heimatlosen geworden. Sich offen prostituierende Kinder und Kriminalität gehören hier zum Alltag. Und obwohl es im Strafgesetzbuch den Paragrafen 175 gibt, der homosexuelle Handlungen mit Gefängnisstrafen belegt, lässt die Polizei das Treiben rund um den Bahnhof zu.

1918, gerade aus dem Zuchthaus entlassen, in dem er die Zeit des Ersten Weltkrieges wegen Diebstahls verbracht hat, wird Haarmann das erste Mal im Zusammenhang mit einem verschwundenen Jungen aktenkundig. Der 16-jährige Friedel Rothe ist mit Haarmann gesehen worden, wohnte mehrere Tage bei ihm, ist dann plötzlich weg. Haarmanns Wohnungsnachbar drängt die Polizei daraufhin, Haarmanns Zimmer zu durchsuchen, glaubt er doch, er habe nach dem Verschwinden Rothes Tag und Nacht ein Klopfen und Hacken wie beim Fleischer gehört.

Ob die zuständigen Beamten einfach nachlässig sind oder gar nichts finden wollen, lässt sich heute nicht mehr klären. Auf jeden Fall übersehen sie den frisch vom Körper abgeschnittenen Kopf von Haarmanns erstem Opfer, nur leidlich hinter dem Ofen versteckt. Auch spätere Anzeigen und Ermittlungen gegen Haarmann verlaufen im Sand. Prozessbeobachter Theodor Lessing wird der Polizei später Untätigkeit, Versagen und Unterdrückung von Ermittlungen vorwerfen.

Ein Grund für die Passivität der Beamten könnte sein, dass Haarmann auf ihrer Gehaltsliste steht. Nach zehn Jahren im Gefängnis hat er zusammen mit dem ehemaligen Kriminalbeamten Olfersmann die Detektei Lasso gegründet, gilt seitdem als erfolgreicher und zuverlässiger Informant und Denunziant im Dienste der Polizei. Seine Beziehungen zu den Beamten sind derart eng, dass ihm Kriminalwachtmeister Wickbold sogar die Einzelheiten der Anzeige mitteilt, die seine Vermieterin Klara Rehbock im März 1922 gegen Haarmann wegen einer Tätlichkeit gegen sie erstattet hat. Darin berichtet auch Klara Rehbock von seltsamen Dingen, die in Haarmanns Wohnung vor sich gingen: von Klopf- und Sägegeräuschen, als ob Knochen zerkleinert würden, und dass Haarmann morgens, nachdem er Besuch von jungen Burschen gehabt habe, oft mit schweren Paketen das Haus verlasse. Ihrer Meinung nach würden dort Menschen massakriert.

Erst mit den Schädelfunden und den Ermittlungen des Kriminalinspektors Hermann Lange gerät Haarmann, der in den Polizeiakten als „scharfer Homosexueller“ geführt wird, ins Visier der Polizei. Eine Woche lang wird er rund um die Uhr observiert, die Beamten finden jedoch keine Anhaltspunkte, die für eine Verhaftung ausreichen würden.

Doch dann kommt erneut der Zufall zu Hilfe. Haarmann selbst hat der Polizei einen minderjährigen Ausreißer übergeben. Dessen anschließende Aussage aber, er sei von Haarmann beim Sex mit dem Messer bedroht worden, lässt Lange nicht lange zögern. Am 22. Juni 1924 gibt er Anweisung, Haarmann zu verhaften.

Der Ermittler ist sich sicher, den Richtigen festgenommen zu haben. Nur beweisen kann er weiterhin nichts. In Haarmanns Wohnung werden zwar erhebliche Blutspuren auf Kleidungsstücken und in den Ritzen der Dielen gefunden, doch ohne Leiche kein Mord. Immerhin können die Ermittler Haarmann nachweisen, dass das Blut unmöglich von ihm selbst stammt. Bereits seit 1901 ist die Existenz der vier verschiedenen Blutgruppen bekannt, mittlerweile ist man auch in der Lage, diese aufgrund von Blutresten, etwa an Kleidungsstücken, zu bestimmen. In Haarmanns Wohnung werden Proben aller vier Blutgruppen gefunden.

Inspektor Lange entschließt sich nun zu einer Medienoffensive. Täglich lässt er Pressemeldungen herausgeben. Jeder, der zum Beispiel Kleidungsstücke von Haarmann gekauft habe oder Auskunft über dessen Lebenswandel geben könne, wird aufgefordert, sich zu melden. In ganz Deutschland werden die Tageszeitungen gebeten, die kriminalpolizeilichen Veröffentlichungen zum Fall zu verbreiten. In den Kinos wird landesweit ein Film mit Bildern von Fritz Haarmann gezeigt.

Der Aufwand macht sich bezahlt. Aus allen Teilen Deutschlands reisen die Angehörigen Vermisster nach Hannover, um sich die dort zusammengetragenen Kleidungsstücke anzusehen. Einige von ihnen erkennen Hosen, Jacken und Mäntel als diejenigen ihres Angehörigen wieder und helfen so, die Opfer Haarmanns zu identifizieren. Dessen Geliebter Hans Grans wird als Mittäter festgenommen, weil er den kompletten Anzug eines Vermissten trägt.

Was nun folgt, wird die deutsche Öffentlichkeit erst in den 1960er Jahren erfahren. Die Ermittler setzen Haarmann physisch und psychisch massiv unter Druck. Sie schlagen zu, ketten ihn in seiner Zelle fest. Über der Tür werden Totenschädel seiner vermeintlichen Opfer angebracht, deren Augenhöhlen sind mit rotem Papier und einer brennenden Kerze dahinter präpariert. Diesem Druck hält Haarmann nicht stand und gesteht sechs Morde. Auch liefert er zumindest einen unumstößlichen Beweis, indem er die Stelle verrät, an der sein letztes Opfer vergraben liegt. Die Folter wird verschwiegen, schließlich ist die Anwendung von Zwangsmitteln zur Aussageerpressung schon damals strafbar.

Am 4. Dezember beginnt der Prozess. Der Andrang ist riesig. Um die lediglich 50 Zuschauerplätze wird regelrecht gerungen. Vor dem Betreten des Saales werden die Menschen auf Waffen durchsucht, der Weg zwischen Untersuchungsgefängnis und Gericht wird von der Polizei komplett abgesperrt. Zu groß scheint die Gefahr eines Racheattentates.

Fritz Haarmann leugnet seine Taten nicht, sondern fordert den Richter mehrfach zur Eile auf: „... machen Sie nur rasch, damit ich bald geköpft werde.“ Seine größte Sorge ist es, man werde ihn ohne seinen Kopf bestatten, denn dann könne er im Himmel nicht mehr seine Mutter finden, sagt er. So wie seine Opfer ihn ohne ihre Köpfe, die er ja abgeschnitten oder zertrümmert hat, dort nicht sehen könnten. Auf die Frage des psychiatrischen Gutachters Ernst Schultze, der Haarmann wochenlang auf Schuldfähigkeit untersucht, was ihm, Haarmann, passiere, sollte ihm der Kopf abgeschlagen werden, antwortet der vergnügt: „Dann bin ich doch bei meiner Mutter. Da will ich doch hin.“ Und weiter: „Die wird sich auch freuen, wenn ich oben bin.“ Der Film „Der Totmacher“ von 1995 mit Götz George in der Rolle Haarmanns gibt genau diese Befragung wieder.

Nach 14 Verhandlungstagen und 190 vernommenen Zeugen fällt das Urteil. In drei Anklagepunkten wird Haarmann freigesprochen, für 24 Fälle je einmal zum Tode verurteilt. Im Hinblick auf die Motivation des Täters verwirft das Gericht Haarmanns Aussage, wonach er seine Opfer im sexuellen Rausch totgebissen habe. Vielmehr geht es von kalkuliertem und überlegtem Vorsatz aus: „ ... weil nur so möglich war, die Tötungshandlungen so genau abzuwägen, daß der Tod ohne Kampf und ohne Lärm der Opfer herbeigeführt werden konnte.“ Dass Haarmann das Fleisch seiner Opfer zu Konserven, Wurst und Bouillon verarbeitet hat, hält das Gericht für wahrscheinlich, kann es aber nicht beweisen.

Nach dem Schuldspruch meldet sich noch einmal Haarmann zu Wort: „Das Urteil nehme ich voll und ganz an, trotzdem mir mehrere Fälle zur Last gelegt werden, in denen ich nicht schuldig bin.“ Sein Geliebter Hans Grans wird zunächst in einem Fall zum Tode verurteilt, im späteren Revisionsverfahren aufgrund einer entlastenden Aussage Haarmanns jedoch nur zu einer zwölfjährigen Zuchthausstrafe.

Den Opfern wird ein gemeinsamer Gedenkstein auf dem Friedhof in Hannover-Stöcken gesetzt.

Von Fritz Haarmann erzählt heute noch ein gruseliges Kinderlied. Seinen Kopf hat er tatsächlich nicht mit ins Grab bekommen. Der lagert in der pathologischen Sammlung in Göttingen.

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