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Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt (rechts), und Senatspressechef Egon Bahr erläutern am 17. Dezember1963 auf einer Pressekonferenz im Rathaus Schöneberg die mit Ost-Berlin getroffene Regelung in der Passierscheinfrage.

© dpa

50 Jahre Passierscheinabkommen: Willys Wiedervereinigung

Es war Brandts großes Werk für die geteilte Stadt: Heute vor 50 Jahren gelang das erste Passierscheinabkommen. Für Berliner öffnete sich erstmals die Mauer – zumindest für Westler.

Die Details sind verblasst – aber es bleibt die vage Erinnerung an dunkle Straßen, in denen es nach Braunkohlenbrand und Zweitaktabgasen roch. Am Adlershofer Zeitungskiosk gab es absolut nichts, was einen Zehnjährigen aus dem Westen hätte interessieren können, die Häuser wirkten ein ganzes Stück grauer als jene im aufblühenden Westen. Die beiden Stadthälften waren sich fremd geworden zweieinhalb Jahre nach dem Mauerbau, aber die Zähigkeit der Verhandler auf beiden Seiten hatte eine Zäsur bewirkt: Am 18. Dezember 1963, vor genau 50 Jahren, trat das Berliner Passierscheinabkommen in Kraft. Willy Brandt, der bis dahin schon einiges erlebt hatte, sprach vom „schönsten Tag meines Lebens“; die Wiedervereinigung stand da allerdings noch aus.

Egon Bahr, heute 91 Jahre alt, ist der beste Zeitzeuge. Als Senatssprecher und engster Vertrauter Brandts war er in alle Details der Verhandlungen eingebunden, hatte selbst zahlreiche Anstöße gegeben – ein Glück für die Nachwelt, dass er in diesen Tagen hellwach und präzise in seinen Erinnerungen von Veranstaltung zu Veranstaltung eilt, denn der 100. Geburtstag Brandts fällt ja mit dem Passierschein-Jubiläum fast zusammen.

Auch Bahr hat eine familiäre Erinnerung an das erste gemeinsame Berliner Weihnachten nach dem Mauerbau. Er besuchte eine Tante in Köpenick, bekam eine mächtige Gans vorgesetzt und aß sich satt. Wie das denn möglich sei? „Na“, antwortete die Tante, „du glaubst wohl auch, dass wir hier alle am Hungern sind?“ Was keineswegs der Fall war, auch wenn es an sehr vielem mangelte.

Kennedy teilte Willy Brandt mitgeteilt, dass Krieg das einzige Gegenmittel sei

Nach dem Mauerbau im August 1961 war die innerstädtische Grenze nach und nach undurchdringlich geworden. US-Präsident Kennedy hatte Willy Brandt mitgeteilt, dass aus seiner Sicht Krieg das einzige Gegenmittel sei, und den wolle niemand. Ein Jahr später starb Peter Fechter, noch heute das bekannteste Maueropfer, unter den Kugeln Ost-Berliner Grenzposten, und Bahr sagt, „das war der Moment, in dem die Berliner wirklich begriffen, dass das auf lange Zeit so bleiben würde“.

Auch nach dem ersten Passierscheinabkommen 1963 gab es Vereinbarungen über Besuchsmöglichkeiten von West-Berlinern im Ostteil der Stadt. Diese Aufnahme entstand zu Ostern 1965 am S-Bahnhof Friedrichstraße.
Auch nach dem ersten Passierscheinabkommen 1963 gab es Vereinbarungen über Besuchsmöglichkeiten von West-Berlinern im Ostteil der Stadt. Diese Aufnahme entstand zu Ostern 1965 am S-Bahnhof Friedrichstraße.

© picture alliance / ZB

Dennoch erhöhte sich der Druck auf beiden Seiten. Unter den argwöhnischen Blicken der West-Allierten wie der Russen setzte sich zögernd eine Diplomatie der kleinsten Schritte in Gang, bei der es von westlicher Seite vor allem darum ging, nichts zu unterschreiben oder auch nur zu sagen, was als Anerkennung der DDR oder der Hauptstadteigenschaft Ost-Berlins verstanden werden konnte.

Am 5. Dezember traf bei Brandt ein Brief ein, in dem Walter Ulbrichts Stellvertreter Alexander Abusch eine Passierscheinregelung anbot. „Wir hatten einen solchen Brief erwartet“, sagt Bahr, „weil es schon vorher Zeichen gegeben hatte.“ Brandts engster Kreis mit Bahr und Heinrich Albertz, dem Chef der Senatskanzlei, hatte sich in Wochenendklausuren vorbereitet, hatte alle Fallstricke analysiert und Verhandlungspositionen festgelegt – im Bewusstsein, dass vor allem die Bundesregierung, die keine Verhandlungen mit DDR-Abgesandten akzeptierte, praktisch überrumpelt werden musste. Die Senatskanzlei im Rathaus Schöneberg agierte deshalb blitzartig und nahezu konspirativ; Brandt bestimmte Senatsrat Horst Korber, einen gebürtigen Thüringer, als Verhandlungsführer, der Osten schickte Erich Wendt, einen hohen, als eher liberal geltenden Kulturpolitiker.

An den Übergängen spielten sich herzzerreißende Szenen ab

Die Gegensätze schienen unüberbrückbar: Der Osten wollte eine Vereinbarung nach internationalem Standard, der Westen eine Regelung auf Verwaltungsebene. Den Durchbruch brachte – so erinnert sich Bahr – die „salvatorische Klausel“, die Albertz, gelernter Theologe, ins Gespräch brachte und in der beide Seiten ihren Dissens in den Details der Statusfrage zu Protokoll gaben. Dann konnte organisiert werden. Aus heutiger Sicht nur noch kurios: Ost-Berlin schickte unverfängliche Postbeamte, die die Passierscheinanträge in West-Berlin entgegennahmen und bearbeiteten. Dass es sich sämtlich um verkleidete Stasi-Mitarbeiter handelte, wurde erst nach der Wende öffentlich bekannt.

Und es waren viel zu wenige. Der Ansturm auf die zwölf Passierscheinstellen übertraf alle Erwartungen, das Personal musste wiederholt aufgestockt werden. Vom 18. Dezember bis zum 5. Januar gab es nach Senatsschätzungen etwa eine Million Begegnungen, weil rund 700 000 West-Berliner zum Teil mehrfach kamen.

An den Übergängen spielten sich herzzerreißende Szenen ab. Denn das Glücksgefühl war immer vom Wissen getrübt, dass eine Wiederholung vorerst nicht in Aussicht stand. Auch Bahr war skeptisch: „Wir hatten das Gefühl, dass die DDR nach dem ersten Abkommen hart bleiben würde.“

DDR sah die große Chance einen Keil zwischen Berlin und Bonn zu treiben

Ein einseitiger Blick, denn auch Bonn ging auf Gegenkurs. „Die Berliner nehmen die Sicherheit von den Amerikanern, das Geld von Bonn und die Passierscheine von Ulbricht“, schimpfte Rainer Barzel, CDU-Fraktionschef im Bundestag, und Franz Amrehn, Berliner CDU-Vorsitzender, nannte die Regelung „unwiederholbar“. Die DDR sah dagegen die große Chance, einen Keil zwischen Berlin und Bonn, zwischen SPD und CDU zu treiben, und bombardierte West-Berlin mit Gesprächsangeboten, die nach stets endlos zähen Verhandlungen in den Folgejahren zu drei weiteren Abkommen führten.

Pfingsten 1966 war Schluss, weil die DDR sich nicht mehr mit Formelkompromissen à la Albertz zufriedengeben wollte und wohl auch nach Bildung der Großen Koalition 1966 keine Chance mehr sah, den Bundestag zu spalten. Nach drei Weihnachtsfesten in Folge musste Berlin wieder getrennt feiern. Die strikte Spaltung der Stadt dauerte an bis zum Viermächteabkommen 1971.

Bahr blieb vorsichtig pessimistisch: „Ich war ganz sicher, dass es nicht möglich sein würde, ein großes Volk in der Mitte Europas auf Dauer zu teilen. Aber ich war Mitte der Achtziger sehr unsicher, ob ich das noch erleben würde.“

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