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Steine des Anstoßes. An der Dahlmannstraße will der Vermieter die „Stolpersteine“ für NS-Opfer entfernen. Ein Zeichen dagegen setzt hier Helmut Lölhöffel von der Gedenk-Initiative.

© Kai-Uwe Heinrich

Holocaust-Gedenken in Berlin: Hauseigentümer will Stolpersteine entfernen

Einen Vermieter in Berlin-Charlottenburg stören Stolpersteine, die vor seinem Haus verlegt wurden und an Nazi-Opfer erinnern. Für die Entfernung der Gedenksteine von seinem Grund und Boden hat er der Berliner Stolperstein-Initiative ein Ultimatum gestellt.

Fast 6000 „Stolpersteine“ erinnern in Berlin an Juden und andere Menschen, die in der Nazizeit verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Im engen Wortsinn ist wohl noch nie jemand über die vom Künstler Gunter Demnig gestalteten Gedenktafeln gestolpert, von denen es rund 47 000 in 17 europäischen Ländern gibt. Die Betonsteine mit beschrifteten Messingplatten sind in Gehwege eingelassen. Der Name meint, dass sie zum Nachdenken anregen sollen.

Doch nun will der Eigentümer eines Charlottenburger Mietshauses sieben Steine entfernen lassen – angeblich wegen Stolpergefahr.

Die Gedenksteine vor dem Haus Dahlmannstraße 1 nahe dem S-Bahnhof Charlottenburg sind auf Wunsch der Familien jüdischer NS-Opfer entstanden, die in einem früheren Wohngebäude an gleicher Stelle gelebt hatten. Nachkommen und engagierte Berliner finanzierten die Tafeln. Bereits im Juni 2009 wurden drei Stolpersteine verlegt; gewidmet sind sie Gertrud und Carl Cohn, die 1944 in Auschwitz ermordet wurden, und ihrem Sohn Martin, der sich unter dem Druck der Verfolgung von einer Brücke in den Tod stürzte.

Es geht um 30 bis 40 Zentimeter

Übersehen wurde vor gut fünf Jahren, dass die Pflasterung links und rechts vom Hauseingang nicht zum Gehweg gehört. Grenzsteine markieren den Übergang vom öffentlichen Straßenland zum Privatgrundstück des Hauseigentümers und Architekten Karlheinz F. Die Stolpersteine liegen 30 bis 40 Zentimeter zu nah am Haus.

Aktives Gedenken. Wachsspuren unter den Steinen für Familie Cohn stammen vom 9. November. Zum Jahrestag der Pogromnacht von 1938 hatten Bürger Kerzen aufgestellt.
Aktives Gedenken. Wachsspuren unter den Steinen für Familie Cohn stammen vom 9. November. Zum Jahrestag der Pogromnacht von 1938 hatten Bürger Kerzen aufgestellt.

© Kai-Uwe Heinrich

Tafeln für die Familien Brück und Kallmann. Eine erinnert an Martha Kallmann – ihr gehörte an der Dahlmannstraße 1 auch der Süßwarenladen „Kallmanns Süße Ecke“.
Tafeln für die Familien Brück und Kallmann. Eine erinnert an Martha Kallmann – ihr gehörte an der Dahlmannstraße 1 auch der Süßwarenladen „Kallmanns Süße Ecke“.

© Kai-Uwe Heinrich

Warum das niemandem auffiel, kann Helmut Lölhöffel, Koordinator der Stolperstein-Initiative in Charlottenburg-Wilmersdorf, nicht mehr nachvollziehen. Der Journalist und ehemalige Berliner Senatssprecher übernahm sein Ehrenamt erst 2010.

Am Standort der ersten Steine orientierte sich die Initiative später, als im März 2012, im April 2013 und im April dieses Jahres vier weitere Stolpersteine für das Ehepaar Brück und die Familie Kallmann hinzukamen. „Wir haben sie einfach daneben verlegt“, erinnert sich Lölhöffel. Für Gehwege gibt es eine allgemeine Erlaubnis des Bezirks.

Hauseigentümer nennt „versicherungsrechtliche Gründe“

Im Juni aber kam ein Brief des Hauseigentümers: „Schon aus versicherungsrechtlichen Gründen kann ich die glatten Stolpersteine jedoch auf meinem Grundstück nicht dulden.“ Die Initiative solle sie entfernen und „gegebenenfalls auf dem Gehweg“ neu einlassen.

Helmut Lölhöffel schrieb zurück, beschrieb den Sinn der Stolpersteine und wies darauf hin, dass allein in Charlottenburg-Wilmersdorf bereits rund 2600 verlegt wurden. Unfälle habe es nie gegeben. Sollte es andere Gründe geben, „würden wir diese gerne hören oder lesen“, erklärte er Karlheinz F. Der 89-jährige Vermieter wohnt selbst nicht in der Dahlmannstraße, sondern in Westend.

Dahlmannstraße 1. Im Vorgängerbau wohnten bis zur Deportation oder Vertreibung durch das NS-Regime drei jüdische Familien.
Dahlmannstraße 1. Im Vorgängerbau wohnten bis zur Deportation oder Vertreibung durch das NS-Regime drei jüdische Familien.

© Kai-Uwe Heinrich

Am Freitag lief eine gesetzte Frist ab

Zunächst geschah nichts – bis F. Anfang November ein Ultimatum stellte: Bis Freitag, 21. November, müssten die Stolpersteine weg. Sonst werde er sie „durch meine Handwerker entfernen lassen und in meinem Büro verwahren“. Dort könnten die Steine abgeholt werden, wenn man ihm die Lohnkosten ersetze. Geschehe dies nicht bis Ende Mai, „werde ich sie danach entsorgen“.

„Dieser Fall ist einzigartig in Berlin“, sagt Koordinator Lölhöffel. Die Initiative verlege jährlich rund 400 Stolpersteine. Bisher hätten Hauseigentümer immer zugestimmt, wenn es ausnahmsweise mal um private Grundstücke gegangen sei.

Für den Tagesspiegel war Karlheinz F. seit Freitagvormittag nicht erreichbar. Bereits in den Briefen hatte er es strikt abgelehnt, seine Beweggründe näher zu erläutern. Jeder könne „über sein Eigentum bestimmen, wie es ihm beliebt“. Man müsse ja auch keine Aufkleber an der eigenen Kleidung oder am Auto dulden.

„Schändung des Andenkens“

Jetzt hat das Ultimatum Empörung ausgelöst. Anwalt und Kunstförderer Peter Raue, der ganz in der Nähe wohnt, schaltete sich als Rechtsbeistand der Initiative ein und erinnerte F. ans Grundgesetz: „Eigentum verpflichtet.“

Reaktionen am Sonntag. Nach dem Erscheinen unseres Berichts hielten unter anderem diese Frauen an den Stolpersteinen inne. Weitere Bürger legten neue Blumen nieder.
Reaktionen am Sonntag. Nach dem Erscheinen unseres Berichts hielten unter anderem diese Frauen an den Stolpersteinen inne. Weitere Bürger legten neue Blumen nieder.

© Renate Friedrichs / Verein Quartier Bayerischer Platz

Bezirksbaustadtrat Marc Schulte (SPD) schrieb, die Stolpersteine seien „weder störend noch versicherungsrechtlich relevant“. Nachkommen der NS-Opfer würden eine Verlagerung „schwer verstehen“.

Dem Tagesspiegel liegen zwei Protestbriefe von Angehörigen vor. In einem spricht Esther Colton, Enkelin und Nichte der Opfer aus der Familie Cohn, von „Schändung des Andenkens“.

Achim Holtmann weist auf die Ermordung seiner Ururgroßmutter Martha Kallmann im Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) hin und fragt, ob der Hauseigentümer „durch die Entfernung der Stolpersteine dieses Erinnern unterdrücken“ wolle.

In einem dritten Schreiben finden die Berliner Eheleute Dorothea und Helmut Lubasch, die den Stolperstein für Familie Brück bezahlt hatten, der Grundstückseigner solle sich „unendlich schämen“.

Die Initiative versetzt die Steine nicht

Eine Mieterin im Haus nannte das Verhalten des Eigentümers „kleinkariert“. Am Sonnabend waren die Steine noch da. Lölhöffel putzte sie und legte Blumen nieder. Sie zu versetzen lehnt er weiterhin ab. Das würde zwar nicht viel kosten, weil Auszubildende des Lehrbauhofs Berlin-Brandenburg die Stolpersteine verlegen, wäre aber „pietätlos“.

(Update 25.11.: Inzwischen hat sich Künstler Gunter Demnig für eine Neuverlegung auf dem Gehweg ausgesprochen.)

Der Artikel erscheint auf dem Ku'damm-Blog, dem Online-Magazin für die westliche Innenstadt.

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