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Erzählsalon im Einkaufscenter. Mit dabei: Eva Schröder (im Rautenpullover) und Klaus Lemmnitz (Mitte).

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Erzählsalon in Pankow: Geschichten, die zusammenschweißen

Katrin Rohnstock organisiert seit 15 Jahren Erzählsalons. Jeder kann hier Geschichten aus seinem Alltag weitergeben - und von den Erfahrungen anderer lernen.

Der Stuhlkreis mitten im Einkaufszentrum erregt Aufmerksamkeit. Zwölf Frauen und Männer sitzen da im Gespräch beisammen. Nur ein paar Meter von den Verkaufsständern eines Dessous-Geschäfts entfernt. Passanten bleiben stehen und lesen auf einem Aufsteller, was hier vor sich geht. Einige setzen sich danach auf einen der noch freien Stühle im Kreis. Katrin Rohnstock ,mit einem kleinen Aufnahmegerät bewaffnet, begrüßt jeden mit einem freudigen Lächeln und ermuntert ihn oder sie, eine Geschichte aus seinem beziehungsweise ihrem Leben in Prenzlauer Berg zu erzählen. Eva Schröder traut sich als eine der Ersten. Die 90-Jährige spricht von ihrer alten Wohnung in der Prenzlauer Allee, die sie so geliebt hat: "74 Quadratmeter mit Balkon für 60 Mark und sieben Pfennige." Nach der Wende erlebte Eva Schröder indes, was derzeit viele in Prenzlauer Berg umtreibt. Ihr Haus wurde "entmietet". Konkret bedeutete das: Die Altmieter sollten vertrieben werden, weil der Besitzer mehr Gewinn aus dem Haus schlagen wollte. "Einmal kam ich am Wochenende aus meinem Garten zurück und wollte noch schnell die Blumen auf dem Balkon gießen. Doch ich trat ins Leere", berichtet Eva Schröder. Der Balkon war schlicht nicht mehr da. Ein anderes Mal habe sich die Verwalterin Zugang zu ihrem Schlafzimmer verschafft und ihr dann vorgeworfen, die Wohnung verkommen zu lassen, weil sie unter dem Bett Staub entdeckt hatte. "Die miesen Tricks der Verwalter, ich kenne sie alle", sagt die Seniorin. Sechs Jahre hielt sie dagegen, am Ende musste sie aber weichen.

Viele in der Runde nicken während des kurzen Vortrags. Einige haben ganz offensichtlich Ähnliches erlebt. Katrin Rohnstock fragt, ob jemand an die Geschichte anknüpfen möchte. Denn das ist der Sinn der Veranstaltung, die sich Erzählsalon nennt. Hier sollen Menschen zu Wort kommen, die sonst nicht im Mittelpunkt stehen. Jeder erzählt ein persönliches Erlebnis aus seinem Alltag. "Nichts Ausgedachtes oder Aufgeblasenes, sondern selbst Erlebtes", sagt Katrin Rohnstock, die in Prenzlauer Berg ein kleines Unternehmen für Auftragsbiografien und Unternehmenschroniken betreibt. Seit 15 Jahren organisiert sie aber auch Erzählsalons. Das Format geht auf eine jüdische Tradition zurück. "Die Teilnehmer erzählen ihre Geschichten und transportieren damit ihre Erfahrungen und Potenziale", erklärt Rohnstock. Das soll Gemeinschaft stiften, aber eben auch jenen ein Ventil bieten, die sich mit ihren Problemen allein gelassen fühlen. Den sogenannten Abgehängten also.

Katrin Rohnstock leitet seit 15 Jahren Erzählsalons. Zeitungsverkäufer Olaf Forner war schon mehrmals dabei.
Katrin Rohnstock leitet seit 15 Jahren Erzählsalons. Zeitungsverkäufer Olaf Forner war schon mehrmals dabei.

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Meist finden Erzählsalons in geschützten Räumen statt, in einem Hotel, im Seniorenheim oder Krankenhaus. Der Nachmittag in den Schönhauser-Allee-Arcaden ist eine Premiere. "Es ist der erste Erzählsalon im öffentlichen Raum", erläutert die Veranstalterin. Ein Thema ist nicht vorgegeben. Jeder darf sprechen, worüber er will. Der Zeitungsverkäufer über seine Erlebnisse im Prenzlberger Nachtleben ebenso wie die junge Frau aus Armenien, die von einer berührenden Zufallsbegegnung mit drei afghanischen Geschwistern und ihrem verwitweten Vater auf einem Spielplatz berichtet. Klaus Lemmnitz hingegen hat in seinem Leben Brüche erlebt, die gleichsam die Brüche in seinem Kiez markieren. Als er nach der Wende seinen Arbeitsplatz in der Industrie verlor, musste noch einmal ganz von vorne anfangen - mit Kondomautomaten, die er in Kneipen aufstellte. Und mit einem Lager in einer ehemaligen Brauerei in der Saarbrücker Straße. Auch andere Gewerbetreibende und Künstler siedelten sich an. Irgendwann beschlossen sie, gemeinsam eine Genossenschaft zu gründen, um zu verhindern, dass das alte Brauereigelände in die Hände von Spekulanten fällt. "Und ich war plötzlich Genossenschaftsvorsitzender", sagt der heute 71-Jährige schmunzelnd. Der Plan ging auf: "Wir sind noch immer da und gelten inzwischen als Modell für alternatives Wirtschaften."

Ausgangspunkt für neue Initiativen

Erfolgsgeschichten wie diese sind die Ausnahme im Erzählsalon. Doch auch kleine Geschichten können etwas bewirken. "Über Erzählprozesse überwindet man die kollektive Lähmung und gewinnt Mut für Neues", sagte Gabriela Christmann, stellvertretende Direktorin des Leibniz-Instituts für raumbezogene Sozialforschung (IRS), im September bei einem Fachseminar. Christmann hat das bisher größte Erzählprojekt von Katrin Rohnstock wissenschaftlich begleitet. Dabei wurden in der Lausitz mit Unterstützung der Bundesbeauftragten für die neuen Bundesländer, Iris Gleicke, 2015 und 2016 insgesamt 42 Salons mit 500 Teilnehmern in fünf Orten angeboten. Aus Sicht Christmanns waren sie ein wichtiger Ausgangspunkt für neue Initiativen in der Region.

Der nächste Erzählsalon findet am 26. Januar, 17 Uhr, in der Begegnungsstätte für Jung und Alt, Stille Straße 10 in Niederschönhausen, statt. Vorgestellt wird das Buch „Wer wenn nicht wir?“ von Ulrika Zabel (1953-2015), Gründerin des „Kompetenz Zentrums Interkulturelle Öffnung der Altenhilfe“. Danach erzählen Weggefährten Zabels und alle, die ihre Erfahrungen schildern wollen.

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