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Folgen Sie diesem Mann! Der DDR-Staatssicherheit gelang es Ende der 70er Jahre nicht, ein aktuelles Porträtfoto von Michael Mara zu bekommen, es lag ihr nur eine Aufnahme des 19-jährigen Rekruten von 1961 vor (rechts). Darum beauftragte die Stasi einen Zeichner, auf Grundlage des Jugendfotos ein Phantombild ihrer Zielperson zu erstellen. Eine Ähnlichkeit kann im Rückblick allerdings nur schwer festgestellt werden.

© BStU

Der Tagesspiegel und die Stasi: Operativer Vorgang "Redakteur"

Journalisten aus dem Westen waren natürliche Feinde des DDR-Systems. Ein Tagesspiegel-Mitarbeiter bekam dennoch von der Stasi interne Dokumente – man wollte ihn kontrollieren und andere Quellen enttarnen. Doch der Plan ging nicht auf. Eine Agentengroteske.

Zum Autor: Michael Mara, Jahrgang 1941, wuchs in Halberstadt auf. Er absolvierte eine Journalisten-Ausbildung an der FDJ-Jugendhochschule am Bogensee und arbeitete dann beim Verlag „Junge Welt“ als Redakteur. Wenige Wochen nach dem Bau der Berliner Mauer wurde er als Grenzsoldat eingezogen und flüchtete bei einer günstigen Gelegenheit im Dezember 1961 von Potsdam aus in Uniform nach West-Berlin. Mit Rainer Hildebrandt baute er dort die Mauer-Ausstellungen zunächst in der Bernauer Straße, dann am Checkpoint Charlie auf. 1964 ging er als Redakteur zum Informationsbüro West (IWE), 1969 wurde er Redaktionsleiter. Seit Mitte der siebziger Jahre berichtete er für den Tagesspiegel und eine Reihe westdeutscher Zeitungen über die DDR, aus der heraus er intensiv – zeitweise waren sechs Stasi-IM gleichzeitig auf ihn angesetzt – beobachtet wurde. Nach dem Mauerfall leitete er 17 Jahre lang das Tagesspiegel-Redaktionsbüro in Potsdam. Seit 2007 arbeitet Mara als freier Journalist. 2011 erschien von ihm im Tagesspiegel „Wie die Stasi mich entführen wollte“ – die Geschichte eines Kidnapping-Versuchs 1968.

Am 20. Mai 1987 fährt mein Freund und Kollege Achim L. mit seinem braunen VW-Käfer-Cabrio wieder einmal in besonderer Mission nach Ost-Berlin. Der schlanke Mittdreißiger mit leicht schütterem Haar und Geheimratsecken ist eine eher unauffällige Erscheinung: Wie meist trägt er eine abgewetzte braune Lederjacke und Jeans. Unter seinem Sitz hat er, wie immer bei seinen Kurierfahrten, ein paar Geschenke und einen Brief von mir für den Mann verstaut, mit dem er sich gegen 19 Uhr in der Allee der Kosmonauten in Marzahn zur Übergabe interner Materialien treffen will. Es ist Klaus K., Oberstleutnant der NVA und Ressortleiter im Militärverlag der DDR. Den Grenzübergang Invalidenstraße passiert L. schneller als sonst, worüber er sich aber keine Gedanken macht. Zügig fährt er in Richtung Marzahn weiter. Dass er von einem Pkw verfolgt wird, bemerkt er nicht. In Marzahn angekommen, parkt L. seinen Wagen in der Nähe des vereinbarten Treffpunktes, weil er mit seinem West-Berliner Kennzeichen nicht auffallen will. Klaus K. kommt ihm schon entgegen, beide begrüßen sich freundlich. Sie gehen ein paar Schritte gemeinsam, bis ihnen zwei Männer den Weg versperren. Einer fordert Achim L. auf, „zur Klärung eines Sachverhalts“ in einen am Straßenrand stehenden blauen Lada einzusteigen. Klaus K. geht unterdessen weiter, als ob nichts geschehen ist. Also doch ein Stasi-Mann, schießt es Achim L. durch den Kopf, während er sich in den Pkw zwängt.

Folgen Sie diesem Mann! Der DDR-Staatssicherheit gelang es Ende der 70er Jahre nicht, ein aktuelles Porträtfoto von Michael Mara zu bekommen, es lag ihr nur eine Aufnahme des 19-jährigen Rekruten von 1961 vor. Darum beauftragte die Stasi einen Zeichner, auf Grundlage des Jugendfotos ein Phantombild ihrer Zielperson zu erstellen. Eine Ähnlichkeit kann im Rückblick allerdings nur schwer festgestellt werden.
Folgen Sie diesem Mann! Der DDR-Staatssicherheit gelang es Ende der 70er Jahre nicht, ein aktuelles Porträtfoto von Michael Mara zu bekommen, es lag ihr nur eine Aufnahme des 19-jährigen Rekruten von 1961 vor. Darum beauftragte die Stasi einen Zeichner, auf Grundlage des Jugendfotos ein Phantombild ihrer Zielperson zu erstellen. Eine Ähnlichkeit kann im Rückblick allerdings nur schwer festgestellt werden.

© BStU

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Der Stasi-Thriller hatte acht Jahre zuvor in Halberstadt begonnen: Am Vormittag des 28. April 1979 klingelt es an der Wohnungstür meiner Großeltern in der Otto-Grotewohl-Straße 37. Sie waren damals beide um die 80, den jungen Mann vor ihrer Tür kennen sie nicht. Er stellt sich freundlich als Jugendfreund ihres Enkels vor, mit dem er nach seinem Journalistikstudium wieder Kontakt aufnehmen wolle. Denn Michael, damals junger Redakteur im Ost-Berliner Verlag „Junge Welt“, habe ihn einst für diesen Beruf gewonnen. Dafür sei er dankbar. Die Oma hört schwer, versteht nicht alles, aber der Opa ist hellwach misstrauisch. Als Klaus K. nach meiner Adresse in West-Berlin fragt, rückt er sie nicht heraus: Der ziehe gerade um, sie sei ihm nicht bekannt. Daraufhin bittet der Besucher, doch die Adresse seiner Mutter in Gera an Michael weiterzuleiten.

Aufarbeiter. Michael Mara bei einer Diskussion in der Stasi-Unterlagenbehörde 2012.
Aufarbeiter. Michael Mara bei einer Diskussion in der Stasi-Unterlagenbehörde 2012.

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Nachdem mein Großvater mich über den Besuch informiert hatte, stellte ich mir sofort die Frage, ob er vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) geschickt worden sein könnte. Ich arbeitete damals als leitender Redakteur beim Informationsbüro West (IWE), das im Auftrag des innerdeutschen Ministeriums der Bundesrepublik die DDR-Presse auswertete und relevante Nachrichten weiterverbreitete. Durch diese Tätigkeit wusste ich, dass Klaus K., Hauptmann der NVA, für das Wochenblatt „Volksarmee“ als Reporter tätig war. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass er das Risiko eingehen könnte, mit mir Kontakt aufzunehmen, einem zur Dauerfahndung ausgeschriebenen geflüchteten Grenzsoldaten. Aber sicher war ich mir nicht. Ich schloss nicht aus, dass Klaus K. persönliche Ziele verfolgte, zumal wir nach meiner Flucht 1961 einige Jahre Briefkontakt hatten und ich auch Geschenkpäckchen an seine Familie schicken ließ.

Dem MfS traute ich zwar einiges zu, doch was ich mir damals nicht vorstellen konnte und erst nach dem Mauerfall erfuhr: mit welcher Verbissenheit die Stasi seit 1977 meine Überwachung betrieb, meinen Postverkehr kontrollierte, meinen Freundes- und Bekanntenkreis im Osten und Westen durchleuchtete, mein Wohnumfeld observierte, IMs suchte und auf mich ansetzte.

"Aufklärung, operative Bearbeitung und Kontrolle"

Michael Mara 1961. Auf Grundlage dieses Fotos des Autors als jungem Mann ließ die Stasi Ende der 70er Jahre ein Phantombild anfertigen.
Michael Mara 1961. Auf Grundlage dieses Fotos des Autors als jungem Mann ließ die Stasi Ende der 70er Jahre ein Phantombild anfertigen.

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Die Begründung ist im sogenannten „Operativ-Vorgang Redakteur“ (Reg.-Nr. XV/2474/77) vom 6. Mai 1977 im umständlichen Stasi-Deutsch so formuliert: „Das Anlegen des Operativ-Vorgangs erfolgte im Ergebnis der Analysierung der von Mara erschienenen Artikel und Berichte in der BRD/WB-Presse, die sich vordergründig gegen die Sicherheitsorgane der DDR, insbesondere gegen das Ministerium des Innern richten und die Schlussfolgerungen zulassen, dass Mara über interne Informationen aus diesen Bereichen verfügt.“ Die „Aufklärung, operative Bearbeitung und Kontrolle meiner Person“ sollte mit dem Ziel erfolgen, mich einerseits der Spionage zu überführen und andererseits Kontaktpersonen in der DDR zu ermitteln, die mir „geheim zu haltende Materialien und andere Informationen“ übergaben.

Das MfS reagierte damit auf Veröffentlichungen im Tagesspiegel und anderen Medien, in denen ich aus nicht frei zugänglichen Publikationen der Sicherheitsorgane zitiert hatte wie zum Beispiel „Die Volkspolizei“, „Bereitschaft“, „Der Kämpfer“, „Forum der Kriminalistik“, „Militärwesen“, „Ausbilder“ und „Parteiarbeiter“. Diese Hefte unterlagen nicht der Geheimhaltung, waren aber für den internen Gebrauch bestimmt. Man konnte ihnen interessante Informationen über die Militär- und Sicherheitspolitik der SED sowie über Entwicklungen und Stimmungen in den Sicherheitsorganen der DDR entnehmen, aber auch über Erscheinungen wie Disziplinlosigkeit und Trunksucht in der NVA und Volkspolizei oder schwerwiegende Straftaten, die in den normal zugänglichen DDR-Medien verschwiegen wurden.

Mitte der siebziger Jahren war es mir über eine West-Berliner Bekannte gelungen, an einige dieser internen Publikationen heranzukommen. Dass das MfS nach geraumer Zeit die an der Beschaffung beteiligten Personen identifiziert und meine Bekannte im Anschluss als IM „Susanne Werner“ angeworben hatte, wusste ich damals nicht, ich erfuhr es ebenfalls erst nach der Wende aus den Stasi-Akten. Weder offenbarte sich die Bekannte, noch stoppte das MfS die Lieferungen, was ich im Falle des Bekanntwerdens erwartet hatte. Die Stasi ließ weiter liefern, weil sie sich von meiner Bekannten, die mich regelmäßig beim IWE besuchte, Informationen über meine angebliche „subversive Tätigkeit“ erhoffte.

Nachdem ich 1976 erstmals aus internen Materialien der Volkspolizei in der „Welt“ zitiert hatte, war von der für die abwehrmäßige Sicherung des Innenministeriums zuständigen Hauptabteilung VII/1 der sogenannte „Operativ-Plan“ zu meiner Überwachung ausgearbeitet und ein „verstärkter Kräfteeinsatz von operativen Mitarbeitern“ angeordnet worden. Klaus K., auf dessen Namen man bei der Überprüfung meiner früheren Freunde und Bekannten in der DDR gestoßen war, schien dem MfS als IM besonders geeignet, weil K., SED-Genosse und Offizier, als zuverlässig galt und im Militärverlag tätig war, in dem die internen Publikationen erschienen, an denen ich, wie man inzwischen wusste, Interesse hatte.

Die Stasi rotierte, verfasste seitenlange "Festlegungen"

Das Kalkül der Staatssicherheit ging auf: Ich beantwortete den Kontaktwunsch von Klaus K. positiv und regte – was auch als Test gedacht war – den Austausch „journalistischer Arbeiten“ an, die ein zuverlässiger Kollege überbringen könnte. Den Akten ist zu entnehmen, wie die Stasi rotierte, seitenlange „Festlegungen“ verfasste. Der Vorschlag des Mara sei „zustimmend zu beantworten“, die durch ihn „angestrebten Zusammenkünfte“ seien wahrzunehmen. Die durch Klaus K. zu übermittelnden Briefe seien „vor Übersendung an Mara gründlich zu prüfen und einzuschätzen“, „die eingehende Post des Mara ist analytisch auszuwerten und entsprechend den operativen Erfordernissen sind geeignete Antwortschreiben auf der Grundlage bestätigter Konzeptionen mit dem IMV zu entwerfen und dem Leiter der Abteilung zur Bestätigung vorzulegen“.

Umso größer war dann offenbar die Enttäuschung in der Normannenstraße, dass ich Briefe meist erst nach längeren Pausen beantwortete und mich auch bei Telefongesprächen zurückhielt, die Klaus K. mittlerweile von öffentlichen Fernsprechern in Ost-Berlin mit mir führte und bei denen er sein Interesse an einem Treffen mit einer Vertrauensperson bekundete. Im zweiten Quartal 1980 stellt das MfS in einem der regelmäßigen Berichte zum „Bearbeitungsstand“ fest, dass sich „die Zielperson stark absichert und auch zu den Vorschlägen des IMV eine äußerst abwartende Haltung zeigt“. Die Stasi vermutete, dass ich Zeit gewinnen wolle, um Klaus K. „durch einen imperialistischen Geheimdienst aufklären zu lassen“, was völliger Blödsinn war. In Wirklichkeit wollte ich natürlich auf gar keinen Fall, dass westliche Geheimdienste von dem Kontakt erfuhren.

Weil das MfS nicht ausschloss, dass ich Verdacht geschöpft haben könnte, sollte der „Inoffizielle Mitarbeiter Beobachtung“ (IMB), Deckname „Klaus Günther“, persönliche Motive für seinen Kontakt zu mir stärker betonen. „Durch vordergründige Bezugnahme auf persönliche, insbesondere materielle Interessen, ist ein möglicher Verdacht, dass der IMB im Auftrag des MfS handelt, zu zerstreuen“, heißt es in den Akten. Er wurde deshalb angewiesen, mich um „Hilfe und Unterstützung“ in einer Erbschaftsangelegenheit zu bitten (sein Vater war im Westen verstorben) „und unter diesem Vorwand ein Zusammentreffen mit einem Beauftragten des M.“ anzustreben („Treffbericht“ vom November 1981).

Wegen meiner, wie sie es nannte, „Hinhaltetaktik“ versuchte es die Stasi schließlich mit einem Trick: Sie wies Klaus K. im März 1982 an, „im Interesse der Verschleierung der durch den IMB unternommenen Initiativen“ den Kontakt zu mir abzubrechen. Zuvor hatte man mir sogar die Möglichkeit geben wollen, „kompromittierendes Material“ über Klaus K. zu sammeln, um mein Interesse und das hinter mir vermuteter westlicher Geheimdienste zu steigern. Er sollte bei einer Anwerbung für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit eine „bedingte Zusage“ geben. Doch liefen diese Pläne wegen meines Desinteresses ins Leere.

Sichere Verstecke im Auto

Vertrauliche Verschlusssache! Aus solchen Publikationen der DDR-Sicherheitsorgane zitierte Michael Mara in seinen Artikeln. Für West-Journalisten boten sie interessante Informationen über Militär- und Sicherheitspolitik, über Stimmungen in der Truppe.
Vertrauliche Verschlusssache! Aus solchen Publikationen der DDR-Sicherheitsorgane zitierte Michael Mara in seinen Artikeln. Für West-Journalisten boten sie interessante Informationen über Militär- und Sicherheitspolitik, über Stimmungen in der Truppe.

© Repro: Tsp

Erst nach einjähriger Pause rief er im März 1983 auf Weisung des MfS wieder bei mir an, um mir mitzuteilen, dass er jetzt einen privaten Telefonanschluss habe, von dem wir besser telefonieren könnten. Da er mich wiederum um Unterstützung bei seiner Erbschaftsangelegenheit bat, entschloss ich mich viereinhalb Jahre nach der ersten Kontaktaufnahme in Halberstadt, einen Freund und Kollegen unangemeldet zu Klaus K. zu schicken: Achim L. Mit ihm hatte ich mich als Einzigem wiederholt darüber ausgetauscht, was hinter dem Besuch von Klaus K. in Halberstadt stecken könnte und ob ich den Kontakt für meine journalistische Arbeit nutzen sollte. Achim L. brannte darauf, den NVA-Offizier kennen zu lernen.

Am 8. Oktober 1983 klingelt Achim L. unangemeldet an Klaus K.s Wohnungstür in der Allee der Kosmonauten in Marzahn. Klaus K. zeigt sich bei diesem ersten Treffen erfreut und aufgeschlossen. Achim L. sichert ihm unsere Unterstützung bei der Regelung seiner Erbschaft zu, Klaus K. erklärt sich bereit, interne Schriften aus seinem Verlag zu besorgen. Er verlangt, dass ein „sicherer Transport“ gewährleistet sein müsse, weil davon auch „viel für seinen Beruf“ abhänge. Achim L., der zu dieser Zeit oft nach Ost-Berlin fährt, sichert ihm das zu: Er kenne die Praktiken der Kontrollorgane und habe sichere Verstecke in seinem Auto. Falls man die Materialien doch finden sollte, wollte Achim L. angeben, dass er sie in einer Tüte auf einem S-Bahnhof gefunden habe, wo sie wohl vergessen worden seien.

In der Folgezeit traf sich Achim L. mehr oder weniger regelmäßig mit Klaus K. in dessen Wohnung oder in Gaststätten, es entwickelte sich darüber ein fast freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden. Man sprach offen über Privates und über Politik. Von West-Berlin aus kümmerten wir uns um seine Erbschaft. Der NVA-Offizier übergab die bestellten internen Publikationen und nahm kleine oder größere Geschenke entgegen, manchmal auch einen Geldbetrag. Manche Geschenke behielt die Stasi ein, andere durfte er behalten. Bargeld wurde meist in Forum-Schecks umgetauscht, mit denen Klaus K. dann in Intershops einkaufen konnte.

Verstecke Kamera. Auch Michael Maras Familie in Halberstadt stand unter Beobachtung. Dieses Foto aus der Akte des Autors zeigt Maras Großmutter - in einer Straßenszene mit Gehhilfe und Handtasche.
Verstecke Kamera. Auch Michael Maras Familie in Halberstadt stand unter Beobachtung. Dieses Foto aus der Akte des Autors zeigt Maras Großmutter - in einer Straßenszene mit Gehhilfe und Handtasche.

© BStU

Alle Treffen wurden den Akten zufolge von der Stasi überwacht, die Gespräche in der Wohnung und sogar in Gaststätten aufgezeichnet, sofern das technisch gelang: „Die Tonaufzeichungstechnik entspricht nicht den Anforderungen“, klagten die Überwacher öfter. Zur Gegenkontrolle musste IMB „Klaus Günther“ über jedes Treffen einen Bericht anfertigen, was er mit Akribie tat.

Die Taktik des MfS war zu diesem Zeitpunkt bereits völlig schizophren: Einerseits ermittelte es gegen mich wegen „Spionage und staatsfeindlicher Hetze“ mit dem Ziel, von mir angeblich ausgehende „feindliche und subversive Aktivitäten zu verhindern“. Andererseits ließ man mir ungeniert über zwei IM sensible und nicht frei zugängliche Materialien aus den Militär- und Sicherheitsorganen liefern, auf die ich mich in meinen vermehrten Veröffentlichungen zu militärischen und sicherheitspolitischen Themen berief. Ein nach meinen Erkenntnissen einmaliger Vorgang.

"Vom Tagesspiegel erhält er zur Durchführung der politisch-ideologischen Diversion große Unterstützung"

Mit einigem Aufwand wurde im MfS registriert und analysiert, wann und in welchen Zeitabständen meine Berichte in welchen Medien und zu welchen Themen veröffentlicht wurden. Jedes Zitat wurde überprüft. Weil die meisten meiner Artikel im Tagesspiegel erschienen, stand dieser besonders im Blickfeld des MfS: „Vom Tagesspiegel erhält er zur Durchführung der politisch-ideologischen Diversion große Unterstützung“, konstatierte man am 10. August 1982, um dann penibel aufzurechnen: „Seine Artikel erscheinen in der Regel über 3 Spalten a 45 Zeilen ...“

Da meine Beiträge im Tagesspiegel mit dem Hinweis „Von unserem Mitarbeiter“ gekennzeichnet waren, versuchte das MfS herauszufinden, in welchem Arbeitsverhältnis ich zu der Zeitung stand, was nicht gelang: In einem Vermerk heißt es 1983: „Inwieweit Mara mit diesem Presseorgan ein Arbeitsrechtsverhältnis hat, kann nicht bestätigt werden.“ Offenbar konnte man intern aus dem Tagesspiegel keine Informationen bekommen. In den von mir gesichteten Akten findet sich denn auch kein Hinweis auf einen IM im Tagesspiegel.

Politisch aufschlussreich ist, dass offenbar auch die Partei- und Militärführung im Unklaren gelassen wurde, dass das MfS selbst die internen Materialien aus dem Sicherheitsapparat über Jahre an den leitenden Mitarbeiter eines „Feindobjektes“ (als dieses wurde mein Arbeitgeber, das IWE, eingestuft) lancierte. Wie aus den Akten hervorgeht, gab es im Laufe der Zeit zunehmende Irritationen bei „zentralen Stellen“ über als unpassend empfundene Veröffentlichungen, die auf nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Materialien beruhten.

So kam es zu der Absurdität, dass im Militärverlag, der für den Militärzeitschriften-Vertrieb zuständig war, groß angelegte Überprüfungen gestartet wurden, um einen vermuteten Spion dingfest zu machen. Dann nämlich, als das „ZDF-Magazin“ Ende 1984 einige dieser internen Publikationen vorstellte, die Titelseiten zeigte und Auszüge zitierte. Militärführung und Leitung des Militärverlages reagierten hektisch. IMB „Klaus Günther“ berichtete seinen Führungsoffizieren „informell“, dass ein General der Politischen Hauptverwaltung der NVA im Militärverlag erschienen sei und die Überprüfungen geleitet sowie Maßnahmen angekündigt habe, „damit es dem Gegner schwerer fällt, an diese Materialien zu kommen“.

Das MfS ist nicht zufrieden

Ohne Pause weiter. Auch aus dem "Organ für die Angehörigen der Volkspolizei-Bereitschaften und Kompanien der Transportpolizei" zitierte Mara ausführlich.
Ohne Pause weiter. Auch aus dem "Organ für die Angehörigen der Volkspolizei-Bereitschaften und Kompanien der Transportpolizei" zitierte Mara ausführlich.

© Repro: Tsp

Einige Monate später gab es neuen Wirbel wegen eines am 29. Mai 1985 von mir im Tagesspiegel erschienenen Artikels „Die DDR-Armee und der Atomkrieg“, der unter anderem auf Szenarien der NVA für einen Kernwaffenkrieg beruhte, die im internen „Ausbilder“ beschrieben wurden. „Zentrale Stellen“ verlangten daraufhin Aufklärung über die Quellen, im Militärverlag erschien nach einem informellen Bericht von IMB „Klaus Günther“ ein „Beauftragter“ des Zentralkomitees der SED, der helfen sollte, das U-Boot ausfindig zu machen. Die für die Spionageabwehr zuständige Hauptabteilung I listete fein säuberlich die Quellen aller Zitate auf, ließ die Hintergründe aber im Dunkeln.

IMB „Klaus Günther“ informierte Achim L. auf Weisung seiner Führungsoffiziere detailliert über die Vorfälle: Er müsse jetzt „kürzertreten“ und die Übergabe interner Publikationen reduzieren, weil er nicht wisse, was noch für Untersuchungen kämen. Er wolle sich „nicht die Beine weghauen lassen“. Es könne sein, dass die Materialien künftig nur noch gegen Unterschrift ausgehändigt würden und man sie später vielleicht zur Kontrolle wieder vorlegen müsse. Offenbar sollten Achim L. und ich in dem Glauben bestärkt werden, dass Klaus K. „sauber“ sei.

Mit den Irritationen in der Partei- und Militärführung hing möglicherweise die seit Mitte der achtziger Jahre aus den Akten herauszulesende Unzufriedenheit des MfS über die Ergebnisse meiner „operativen Bearbeitung“ zusammen: Man liefere internes Material, das gegen die DDR genutzt werde, bekomme dafür aber nichts, so das Eingeständnis. Vermutlich auch vor diesem Hintergrund war der „Operativ-Vorgang Redakteur“ bereits im Mai 1984 auf „Weisung des Ministers“ von der Hauptverwaltung VII/1 an die Hauptverwaltung II/13 übergeben worden, die eine kritische Bestandsaufnahme verfasste: Die erreichten Ergebnisse seien „ausbaufähig“. Indirekt wurden Fehler aufgelistet: So hätte „Redakteur“ auffallen können, dass die Initiativen zur Kontaktaufnahme vor allem vom IM ausgegangen seien.

Die nun zuständige HA II war für die Aufdeckung und Abwehr geheimdienstlicher Angriffe gegen die DDR zuständig. Der Abteilung 13 oblag unter anderem auch die Überwachung der in der DDR akkreditierten West-Journalisten sowie die „operative Arbeit zum inoffiziellen Eindringen“ in westliche Publikationsorgane.

Einiges spricht für ein Kompetenzgerangel verschiedener Hauptabteilungen des MfS, denn auch die Hauptabteilung I (Äußere Abwehr) drängte wiederholt auf eine Übernahme des IMB „Klaus Günther“. Sie setzte den Akten zufolge durch, dass alle für die Übergabe an Achim L. vorgesehenen internen Materialien mit ihr abgestimmt werden mussten und untersagte zum Beispiel die Lieferung der internen Agitationsordnung der NVA. Das interne „Handbuch für die politische Truppenarbeit“ durfte hingegen geliefert werden.

1986 stellt das MfS fest: Der Nutzen für den Gegner ist größer als der eigene Erkenntnisgewinn

Weil das Exemplar nummeriert und jeder Empfänger namentlich erfasst war, verlangte Klaus K., dass es innerhalb von drei Tagen nach Ost-Berlin zurückgebracht werden müsse. Ich kopierte wichtige Abschnitte des 400-Seiten-Wälzers in einer Nachtaktion. Nachdem Achim L. den Band wieder über die Grenze zurückgeschafft hatte, ließ das MfS laut Akten das Buch kriminaltechnisch untersuchen: um Fingerabdrücke zu sichern und festzustellen, welche Seiten kopiert worden waren. Wie so vieles in dieser Sache auch das ein vollkommen unsinniger Aufwand, eine groß angelegte Verschwendung von Ressourcen.

Die Volkspolizei. Die Publikationen waren nicht geheim, aber nur zum internen Gebrauch in den entsprechenden Organen bestimmt.
Die Volkspolizei. Die Publikationen waren nicht geheim, aber nur zum internen Gebrauch in den entsprechenden Organen bestimmt.

© Repro: Tsp

Anfang 1986 will die HA II/13 dann ernst machen, endlich auch etwas haben von diesem Grenzverkehr: In einer Vorlage zum „Teilabschluss“ des „Operativ-Vorgangs Redakteur“ wird festgelegt, dass Achim L. bei einer Einreise „konspirativ zuzuführen und zu befragen“ sei. Selbstkritisch wird zudem eingeschätzt: „Der Erkenntnisstand des MfS ist nahezu gleich geblieben, der Nutzen für den Gegner dagegen größer.“ Im Ergebnis eines Verhörs von Achim L. soll dann entschieden werden, ob die Einleitung eines Verfahrens mit Haft möglich und politisch sinnvoll sei oder eher ein „Gewinnungsversuch“ beziehungsweise eine Einreisesperre effektiver seien.

Die Juristen des MfS kommen in einer Bewertung allerdings zu dem eindeutigen Schluss, dass ein Verfahren gegen Achim L. wegen Spionage und „subversiver Tätigkeit gegen die DDR“ kaum möglich sei, weil dann auch der NVA-Offizier Klaus K. einbezogen werden müsse, der wiederum im Auftrag des MfS gehandelt habe. Das MfS hatte sich selbst in eine Falle manövriert. Es vergehen dann allerdings noch fast anderthalb Jahre, bis Ende April 1987 der endgültige „Ablaufplan“ zur „Zuführung“ von Achim L. mit dem Ziel seiner Gewinnung als IM beschlossen wird.

***

Mit dem blauen Lada wird Achim L. an jenem 20. Mai 1987 von Marzahn in das konspirative Stasi-Objekt „Linde“ gebracht, wo ihn die Stasi-Offiziere Spalteholz und Wittenberg wegen Verdachts des Geheimnis- und Landesverrats befragen. Acht Tage zuvor war die „Zuführung“ von Achim L. mit dem IM „Klaus Günther“ vor Ort in Marzahn geprobt worden. Die Stasi wollte nichts dem Zufall überlassen.

Aber auch Achim L. war nicht unvorbereitet. Ich hatte viele Male mit ihm besprochen, wie er sich im Ernstfall verhalten solle: Klaus K. nicht belasten und alles tun, um so schnell wie möglich nach West-Berlin zurückzugelangen. Genau das tut er. Er beantwortet Fragen wahrheitsgemäß, bestreitet entschieden, dass er oder Mara für einen Geheimdienst tätig seien. Die internen Materialien trügen im Übrigen keinen Vermerk „geheim“ und würden allein zu journalistischen Zwecken ausgewertet. Die MfS-Offiziere argumentieren, Achim L. und Klaus K. hätten Maras „subversive Tätigkeit“ unterstützt und damit „den Interessen der DDR geschadet“. Sie drohen mit einem Strafverfahren. Gegen 22 Uhr machen sie eine Pause, greifen danach auf einen alten Vernehmertrick zurück: Klaus K. sei inzwischen befragt worden, er sehe sein Fehlverhalten ein und sei zur „Wiedergutmachung“ bereit.

Daraufhin gibt auch Achim L. seine Bereitschaft zur „Wiedergutmachung“ zu erkennen und formuliert handschriftlich die geforderte Erklärung. Er tue das, damit Klaus K. keine Probleme bekomme. Kurz nach Mitternacht wird Achim L. zu seinem zwischenzeitlich durchsuchten Wagen zurückgebracht. Die zur Übergabe vorgesehenen internen Materialien darf er mitnehmen. 45 Minuten nach Mitternacht ist Achim L. wieder in West-Berlin – erschöpft, aber frei. Um ein Uhr nachts treffen wir uns zur „Krisenbesprechung“.

"Die Konspiration wurde voll gewahrt"

Ausbilder. Die Stasi ließ Michael Mara mit Heften wie diesen versorgen, um sein Vertrauen zu gewinnen.
Ausbilder. Die Stasi ließ Michael Mara mit Heften wie diesen versorgen, um sein Vertrauen zu gewinnen.

© Repro: Tsp

Für mich stand natürlich fest, dass Achim L. nicht mehr nach Ost-Berlin fahren konnte. Aufgrund der Art und Weise, wie die „Zuführung“ verlief, waren wir ziemlich sicher, dass Klaus K. für das MfS arbeiten musste. Beim MfS war man hingegen überzeugt, sich so geschickt verhalten zu haben, dass Achim L. keinen Verdacht geschöpft haben konnte. „Die Konspiration des IM ,Klaus Günther‘ wurde voll gewahrt.“

In den zwei Jahren bis zur Wende hakte Klaus K. mehrmals nach, wann Achim L. wieder nach Ost-Berlin kommen werde. Weil wir am Telefon nicht offen sprechen wollten, reagierten wir mit Ausflüchten. Aber gleich nach dem Mauerfall riefen wir ihn an und luden ihn zu einem Treffen in die Wohnung von Achim L. in Tempelhof ein. Spannung lag in der Luft, als der NVA-Oberstleutnant am nächsten Tag erschien. Wir sagten ihm auf den Kopf zu, dass er im Auftrag des MfS gehandelt haben müsse. Er bestritt hartnäckig. Nach zwei Stunden verabschiedeten wir ihn, seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.

In den Stasi-Akten wird IM „Klaus Günther“ eine „vorbildliche und hohe Einsatzbereitschaft“ bescheinigt. Die Stasi dankte ihm mit Prämien und Geschenken. Die Akten enthalten auch Hinweise auf sein Motiv: Er erwartete als Gegenleistung für seine informelle Mitarbeit die Unterstützung des MfS bei seinem nach 25-jähriger NVA-Zugehörigkeit geplanten Wechsel in den zivilen Journalismus im Jahr 1991. Er strebe einen Job beim Rundfunk oder Fernsehen der DDR, beim „Neuen Deutschland“ oder bei der staatlichen Nachrichtenagentur ADN an, der mit Auslandseinsätzen verbunden sei, sagte er seinen Führungsoffizieren. Und bot beflissen an, das MfS dann weiterhin „inoffiziell zu informieren“. Aus einem der letzten vorliegenden „Treffberichte“ von Ende 1988 geht hervor, dass seine Führungsoffiziere prüfen lassen wollten, in welcher Redaktion „ein erfahrener Kader gebraucht wird“. Zum Wechsel kam es nicht mehr, weil bald darauf die Mauer fiel – zwei Jahre vor dem Ende der 25-jährigen NVA-Dienstzeit von Klaus K.

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Verwunderlich ist wie so vieles an dieser Geschichte auch das weitere Verhalten der Staatssicherheit: Obwohl der Plan gescheitert war, Achim L. als IM zu gewinnen, ließ sie mir durch meine West-Berliner Bekannte, IM „Susanne Werner“, weiterhin internes Material der Sicherheitsorgane liefern – bis zum Mauerfall. Das MfS hätte sich die Mühe allerdings sparen können. Spionage für einen westlichen Geheimdienst konnte mir, wie auch in den Akten bestätigt wird, nicht nachgewiesen werden, und auch sonst waren die Erkenntnisse der zwölfjährigen „operativen Bearbeitung“ des „Redakteurs“ äußerst dürftig.

Dieser Text ist in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.

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