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Berlin: Die Psychobullen vom Ku’damm

Sie schämten sich, als die Polizei gegen Studenten nur auf brutale Stärke setzte – und erfanden die Deeskalation: Zwei Beamte erinnern sich an den 2. Juni 1967

Da saßen sie also wieder, mitten auf dem Kurfürstendamm am Kranzler. Und vermutlich hätte der „Internationale Protesttag gegen den US-amerikanischen Krieg in Vietnam“ geendet, wie es zwischen Studenten und der Polizei schon oft ausgegangen war: mit Wasserwerfern, Knüppeln, Steinwürfen und Verletzten auf beiden Seiten. Wenn an jenem 21. Oktober 1967 nicht Werner Textor, der Polizeioberkommissar mit der Dienstnummer 79 444, zum Mikrofon gegriffen hätte. „Bitte räumen Sie den Kurfürstendamm. Diese Bitte gilt auch für jene Kommilitonen, die hier bereits im 17. Semester demonstrieren“, schnarrte seine Stimme über die Kreuzung. Und da waren sie, die ersten Lacher. Es war der Auftakt zu einer dreistündigen Unterhaltungsshow, eines Schlagabtauschs bis dahin unbekannter Art. Allen, die seiner Aufforderung gehorchten, versprach Textor Tanzmusik über die Lautsprecher. „Warum nicht gleich?“ johlten die Studenten. Der Kommissar konterte: „Weil es sich im Sitzen nicht so gut tanzen lässt!“

Es war eine kleine Revolution, die Textor da vor 40 Jahren anzettelte, nur eben auf Seiten der Polizei. Bei den Auseinandersetzungen mit den Studenten war es der Obrigkeit bis dahin vor allem um eines gegangen: als Stärkere, als Sieger vom Platz zu gehen – und seit dem tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 standen sich die Lager unversöhnlich gegenüber. Damals wusste man es noch nicht, doch Textors Live-Auftritt vor 200 Blockierern und etwa 2000 Schaulustigen war die Geburtsstunde der Deeskalationsstrategie. „Für unsere politische Führung war Deeskalation damals Gift“, sagt Textor, heute 86 Jahre alt, und nippt auf der Terrasse seines Freundes an einem Glas Sekt. 1949 hat er Günter Freund, den Mann „mit derselben Wellenlänge“, im Polizeisportverein kennengelernt. Beide tragen karierte Sommerhemden, seine beiden Krücken hat Textor an die Gartenbank gelehnt. „Was wurden wir damals angefeindet, wenn wir die Sache ein bisschen trickreich angegangen ist“, sagt Freund, Landespolizeidirektor a.D., 83 Jahre alt. Auf dem Tisch stehen frische Erdbeeren, Kekse, Nüsse, die beiden Ehefrauen haben sich mit Mops Jojo ins Haus zurückgezogen.

Als am 2. Juni 1967 bei der Demonstration gegen den Schah von Persien Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde, war Textor, Vater des späteren SEK-Chefs Martin Textor, in Urlaub. Was er „bis heute bedauert“, auch wenn er nicht wisse, ob er die Eskalation hätte verhindern können. Freund, damals für die Inspektion Wedding zuständig, stand als Zuschauer am Straßenrand – ging aber vor dem tödlichen Schuss. „Weil ich mich für diesen Einsatz geschämt habe“, sagt Freund. Er konnte nicht mit ansehen, was der damalige Polizeipräsident Erich Duensing als gelungene „Leberwursttaktik“ anpries: Man müsse „in die Mitte der Demonstration hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatz.“

Mein Gott, dachten Textor und Freund damals – und standen damit ziemlich alleine da in einer militärisch geprägten Truppe. Textor schüttelt noch heute fassungslos den Kopf. Er, der Spaßmacher, der schon im Kriegsgefangenenlager und später bei Polizeifeiern als Conférencier, Zauberer und Kabarettist aufgetreten war, wollte eigentlich Architekt werden. Witze reißt Textor immer noch gerne, doch gegen seinen ehemaligen Chef ist nur schwer anzukommen. „Hier ist Freund, der Psychobulle“, ruft der 83-Jährige zur Begrüßung ins Telefon. Auf seiner Terrasse schaufelt er dem Besuch Bücher, Vermerke, Zeitungsausschnitte und Akten auf den Schoß, er springt durch die Jahrzehnte und feuert Anekdoten wie Gewehrsalven ab. Bevor sie ins Haus verschwindet, hat seine Frau, eine pensionierte Richterin, gesagt: „Rufen Sie laut um Hilfe, wenn er nicht aufhört zu reden.“

Auf der Straße hat Freund stets auf Taktik gesetzt, in der Behörde scherte sie ihn offenbar nicht. Nach dem verhängnisvollen Schuss an der Deutschen Oper schloss sich der stellvertretende Inspektionsleiter aus Wedding in seinem Büro ein, verfasste eine Analyse über die Berliner Polizei – und verscherzte es sich auf einen Schlag mit allen: Die Kameraderie und den Korpsgeist in der Polizei verglich er mit den „strengen Regeln einer Räuberbande“, er forderte die Abkehr von einem „konformistischen Disziplinbegriff autoritärer Prägung“, fand, dass die „Polizei sich nach der Gesellschaft auszurichten hat und nicht die Gesellschaft nach der Polizei“. Zu guter Letzt verlangte er, dass die „politische Führung sich aus dem direkten polizeilichen Geschehen“ heraushalten solle. „Dreister konnte David dem Goliath nicht auf die Füße treten“, schreibt Klaus Hübner, Berlins langjähriger Polizeipräsident, in seinen Memoiren. Hätte er nicht 1969 die Führung übernommen, wäre es für Freund und Textor vermutlich eine kurze Karriere geworden.

Doch Hübner förderte Querdenker. Exoten wie Textor, der vier Monate nach dem Tod von Benno Ohnesorg Schlagzeilen als „Held von Berlin“ schrieb und dessen launige Sprüche vom „sit in“ auf dem Ku'damm selbst die „New York Times“ zitierte. Noch ein paar Auszüge: „Bitte rücken Sie noch etwas mehr zusammen, auf dem Bürgersteig stehen noch Hunderte, die sich auch setzen wollen. Weil diese jungen Leute mehr geistig als körperlich arbeiten, sei ihnen nach einem solch langen Protestmarsch eine Ruhepause gegönnt“, verkündete er auf der Kreuzung zur Joachimstaler Straße, die bei den Studenten damals so beliebt für ihr Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei war und deshalb nur „Spielwiese“ genannt wurde. Zuweilen, sagt Freund, führten die Verfolgungsjagden quer durchs Café Kranzler und die Torten der alten Damen, „nicht sehr appetitlich“.

Doch dieses Mal behielt Textor die stärkeren Nerven. „Wie bitten um Auskunft, wie lange der Sitzstreik ausgedehnt werden soll, damit wir gebenenfalls unseren Wachtmeistern Stühle beschaffen können“, schallte es über die Kreuzung. Pausen überbrückte Textor mit der Durchgabe von Fußballergebnissen, nur „die Lottozahlen liegen uns leider noch nicht vor“. Nach über drei Stunden folgte dann die Ankündigung: „Es beginnt jetzt die zweite Runde unseres Räumspiels Student gegen Gendarm. Es werden Wasserspiele mit neuartigen Geräten vorgeführt, die ein Fassungsvermögen von 5000 Litern haben. Bitte legen Sie Bademäntel und Badehosen bereit.“ Es war seit langem das erste Mal, dass am Ende weder Steine noch Knüppel zum Einsatz kamen.

Allmählich wirft die Nachmittagssonne längere Schatten durch den üppigen Lichterfelder Garten, am Grund des trüben Teichs ziehen Kois ihre Runden. Hübner hatte Freund erst zum Inspektionschef Charlottenburg, später zum Chef der Direktion City und schließlich zum ranghöchsten Laufbahnbeamten der Stadt befördert. Textor verließ die Polizei 1975 aus gesundheitlichen Gründen, Freund ging 1983 in Pension. Der eine malt und bildhauert seitdem, beide schreiben – Bücher über ihr Leben, aber auch Gedichte oder heiter-ironische Texte über die Heimat. Als der Hausherr kurz in der Gartenlaube verschwindet, lächelt Textor verschmitzt: „Haben Sie noch Fragen? Jetzt isser weg.“

Es war April 1969 – so erzählen es jedenfalls die beiden Männer auf der Terrasse – als sich der neue Polizeipräsident eine Idee von Günter Freund zu eigen machte: die „Gruppe 47“, später auch „Diskussionskommando“ oder eben die „Psycho-Bullen“ genannt. Es war ein europaweit einmaliges Experiment. „Gruppe 47“ hieß sie, weil von 60 nur 47 Freiwillige übrig blieben, die fortan nur einen Auftrag hatten: Reden, Gewalt verhindern, frei nach dem Motto: „Wer spricht, wirft keine Steine!“Textor leitete die bunt zusammen gewürfelte Truppe, deren Durchschnittsalter bei 25 Jahren lag. Vor ihrem ersten Einsatz paukten die Polizisten Marx, Lenin und Mao, diskutierten mit Dozenten aktuelle Fragen zum Vietnam-Krieg und dem Hochschulkonflikt, sie hörten Vorträge zum historischen sowie dialektischen Materialismus und diskutierten Marcuses Theorien über den neuen Menschen.

Hübner sagt es, Textor und Freund sagen es auch: „Es hat oft geklappt, den Ausbruch von Gewalt zu verhindern.“ Die Wortführer kannten Textor und seine Kollegen, die man auf dem FU-Campus stationiert hatte, bald mit Namen, man duzte und begrüßte sich – zum Entsetzen vieler Kollegen – mit Handschlag auf den Demonstrationen. Als Studentenführer Rudi Dutschke Textor einmal vorwarf, dass man bei der Polizei doch schon verloren habe, wenn man nur lange Haare und einen Bart trage, stellte Textor das Rasieren ein. Den Vollbart habe er „noch jahrelang behalten“.

Es war die Zeit, als im Karree zwischen Technischer Universität, Amerika-Haus und KaDeWe fast täglich die Schlachtrufe erklangen: Ho-Ho-Ho-Chi-Minh! Sieg im Volkskrieg! Ha ho he – Springer in die Spree! Als sich die Studenten einmal an der Kochstraße zur Anti-Springer-Demonstration sammelten, stellte Textor neben seinem Wagen eine große Schiefertafel auf: „Luft 24 Grad, Wasser 8 Grad“, stand darauf. Die Studenten lachten, es blieb mal wieder ruhig.

Schwer zu sagen, wer nun wirklich die „Gruppe 47“ erfunden hat, Hübner oder Freund oder beide gleichzeitig. Die beiden Männer auf der Terrasse wollen darüber nicht streiten, denn das Wichtigste sei schließlich gewesen, dass der Präsident die Idee „als gut erkannt und durchgesetzt“ hat. Nur wenn heute die Jungen bei der Polizei mit ihren Erfolgen bei der Deeskalation prahlen und der Erfindung der Anti-Konflikt-Teams, wirken die Pioniere nicht mehr ganz so gelassen. „Das haben wir schon vor 40 Jahren gemacht!“, schimpft der eine. „Die Polizei hat kein Gedächtnis“, winkt der andere ab.

Im Mai 1968, da standen sich Textor und Dutschke noch einmal an ganz anderer Stelle, nämlich im Krankenhaus Westend gegenüber. Zufällig trafen sich die beiden Patienten draußen im Garten, setzten sich auf eine Bank und plauschten. Dutschke sprach über seine Nachbehandlung, nachdem er von einem fanatisierten Arbeiter angeschossen worden war, Textor über seine Operation, nachdem die Ärzte bei ihm einen Gehirntumor entdeckt hatten. Dutschke sagte: Was macht die Polizei jetzt ohne dich? Textor antwortete: Und was macht die Apo ohne dich? 1979 starb Dutschke an den Spätfolgen des Attentats.

Als sich Günter Freund wieder der Terrasse nähert, muss es schnell gehen. Also, Herr Textor: Haben Sie je Ihren Schlagstock benutzt? „Niemals“, beteuert Textor. Er habe nie eine Situation erlebt, in der ihm ein Schlag mit dem Knüppel „rechtmäßig“ erschienen wäre. Es klingt, als könnten manche junge Kollegen immer noch von Textor lernen.

Mehr zum Thema im Internet:

www.tagesspiegel.de/ohnesorg

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