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Ursula Groß ist Erstwählerin des Jahres 1949.

© Tsp

Erste Wahl 1949: „Wir wussten nicht, was Demokratie ist“

Berlinerinnen und Berliner erzählen von ihrer Wahlpremiere. Die 91-jährige Ursula Groß erinnert sich daran, dass viele andere Sorgen hatten als die Bundestagswahl.

Ursula Groß ist die erste Berlinerin in unserem Wahl-Projekt "Erste Wahl: Zeitreise durch die Bundestagswahlen". Wir haben Zeitzeugen zu jeder Bundestagswahl im Videointerview. Dazu gibt es Grafiken, Zahlen und Fakten zu jeder Bundestagswahl seit 1949 sowie Analysen und die Titelseiten des Tagesspiegels zu jeder Wahl. All das finden Sie hier.

Mein Name ist Ursula Groß, ich bin Ärztin, 91 Jahre alt und wohne seit einem Jahr in Berlin, in Westend. Meine erste Bundestagswahl war 1949 in Hamburg.

Ich war damals 23 Jahre alt und es war meine absolut erste Wahl, weil man unter den Nazis ja nicht gewählt hat. Es war damals eigentlich noch keine so große Begeisterung für die Demokratie da und dann wurde ein SPD-Kandidat angekündigt, das war damals Kurt Schumacher. Der hat eine Wahlrede gehalten und da bin ich hingegangen. Ich muss sagen, ich war fasziniert von dem Vortrag. Mit Begeisterung hat Kurt Schumacher die Bevölkerung aufgerufen, zur Wahl zu gehen und wie wichtig das sei und was überhaupt eine Demokratie bedeutet. Und das war so aufrüttelnd.

„Was nützt denn meine Stimme?“

Es waren übrigens vorwiegend junge Leute da. Das fand ich ganz merkwürdig. Die Alten waren vielleicht alles Mitläufer der Nazis – ich weiß es einfach nicht. Es war ganz auffällig: Fast nur junge Leute. Und das hat mich damals so beeindruckt. Ich weiß, dass man in Kreisen unserer Eltern eigentlich immer auf die Weimarer Republik geschimpft hat: Das wäre eine Schwatzbude gewesen.

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Und eins darf man nicht vergessen: Damals gab es die Fünf-Prozent-Hürde noch nicht. All diese kleinen Parteien waren mit ein oder zwei Leuten im Parlament. Das war eine Katastrophe. Es wurde alles zerredet. Ich weiß jetzt nicht, wann die Hürde eingeführt wurde, aber damals 1949 gab es sie noch nicht. Und ich war ganz glücklich, dass die SPD mit zwei Prozent Vorsprung vor der CDU lag. Das muss ich hier mal sagen.

Ich habe die Leute ermahnt, in Zukunft wählen zu gehen, die nicht gegangen sind und gesagt haben: „Was nützt denn meine Stimme?“ Ich habe gesagt: „Stellt euch mal vor, alle sagen das.“ Dieses Wahlbewusstsein war einfach noch nicht da. Sie kannten es ja nicht.

Wahlhelferin auf der Reeperbahn

Wir hatten gerade die Zulassung zum Studium, hatten – bei Gott – andere Sorgen: Diese wirklich ganz kalten Winter nach dem Krieg. Das war schon sehr, sehr frustrierend. Und nun kam auf einmal die Aufforderung, wir sollten wählen gehen. Viele sagten: „Was soll ich da? Und: Die machen sowieso was sie wollen.“ Das Übliche. Und ich habe sie alle animiert.

Man brauchte auch Wahlhelfer. Es war ja alles neu und man brauchte zum Verteilen der Wahlbenachrichtigung Leute. Und da habe ich mich gemeldet und habe vor der Wahl die Wahlbenachrichtigungen verteilt, lustigerweise auf der Reeperbahn. Das waren ganz merkwürdige Erlebnisse, die ich da als junge Frau hatte. Es war ja nun wirklich ein Milieu, in dem ich nicht zuhause war. Im Endeffekt waren das die Nutten mit ihrer Familie, zu denen ich gegangen bin. Das war für mich eine ganz tolle und aufregende Zeit.

"Mit Strauß habe ich furchtbar gestritten"

An der Hamburger Universität gab es ein Studentenparlament, in das habe ich mich wählen lassen. Und in diesem Studentenparlament war Helmut Schmidt. Er war in einem höheren Semester und ich war im vierten oder fünften Semester. Da habe ich Helmut Schmidt kennengelernt – und ich weiß nicht ob ich das jetzt sagen soll, aber ich habe ihn als sehr herrisch empfunden.

Eine Legende. Kurt Schumacher auf einem Plakat aus dem Wahlkampf 1949.
Eine Legende. Kurt Schumacher auf einem Plakat aus dem Wahlkampf 1949.

© SPD/AdsD

Ich habe sie eigentlich alle kennengelernt. Ich habe auch Herbert Wehner kennengelernt. Ich habe später mal in Oberbayern gewohnt und da habe ich im Wahlkreis von Franz-Josef Strauß gewohnt. Mit dem habe ich mich furchtbar gestritten. Aber jedes Mal wenn er kam, wenn ein Fest war, wollte er neben mir sitzen. Er hat sich offensichtlich gerne mit mir gestritten. Ich habe ihm auch vorgeworfen: Sie kaufen Ihre Stimmen. Wenn bei einem Bauer die Kuh nicht gekalbt hat, dann hat er mit Geld ausgeholfen. Aber Sie müssen mich wählen, hat er dann immer gesagt. Es war eine verrückte Zeit.

Aufgezeichnet von Ronja Ringelstein und Ann-Kathrin Hipp.

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