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Umgebung der Kaiser-Friedrich Gedächtniskirche am Tiergarten

© Tsp

Kirchengemeinde am Berliner Tiergarten: Die Ratlosigkeit nach der Nächstenliebe

Lange haben sie versucht, Obdachlosen und Flüchtlingen zu helfen. Doch nun ist auch die evangelische Kirchengemeinde Tiergarten ratlos. Eine Reportage.

Es ist 10 Uhr 30, als sich Ernst Krüger auf eine verschnörkelte Parkbank setzt. Seine Probleme liegen jetzt fünf Meter hinter und zehn Meter vor ihm. Hinter ihm hat sich gerade ein junger Obdachloser aus seinem Schlafsack geschält. Er faltet langsam eine Decke zusammen und platziert sie neben seinem Schlafsack. Vor ihm liegen drei weitere Obdachlose, eingewickelt in ihre Schlafsäcke. Neben dem Quartett schichten sich leere Joghurtbecher, zerdrückte Dosen, leere Flaschen, Plastiktüten und alte Klamotten zu einem Müllberg auf.

Vor Krüger schlendert ein junger Mann über eine Wiese mit mächtigen Bäumen, und Krüger vermutet, dass er Teil des Problems ist. Auf der Wiese warten üblicherweise junge Stricher. Als die Polizei sie mal kontrollierte, traf sie auf einen 17-jährigen Flüchtling mit Residenzpflicht in Brandenburg. „Viele hier sind schon sehr jung“, sagt Krüger.

Die Obdachlosen liegen an einer Mauer der Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche, die Bank steht an einem Weg, der von einer Straße des Hansaviertels in den Tiergarten führt, direkt neben der Kirche.

Krüger ist Küster der Kirche. Ein kleiner, 70-jähriger Mann mit leiser Stimme. In dieser Stimme liegt jetzt eine Mischung aus Verzweiflung, Trauer und Wut. „Früher haben auf dieser Bank viele Menschen gesessen“, sagt Krüger. „Jetzt ist hier niemand mehr.“

Er sieht die Gründe dafür, natürlich, mit seiner leisen Stimme zählt er sie auf. Aggressive Obdachlose, die an der Kirche oder in der Nähe hinterm früheren Pfarrhaus lagern, afghanischen Drogensüchtige, die auch an der Kirche übernachteten, die Müllhalden um die Kirche, der Drogenstrich gleich hinter der Kirche, die jungen Männer, die sich auf der Wiese prostituieren.

Als der Küster mal vor der Kirche auf einer Bank saß, fragte ihn ein junger Stricher in gebrochenem Deutsch, ob Krüger mal mit ins nächste Gebüsch möchte. Der 70-Jährige erzählt auch diese Geschichte leise, aber der Ekel in seinem Gesichtsausdruck wirkt wie ein fassungsloser Schrei.

Der ganze Tiergarten hat längst seinen alten Charakter verloren. Stricher, Dealer, Obdachlose, diese Szenerie gehörte schon immer zum Park wie mächtige Bäume und idyllische Seen. Aber inzwischen haben sich die Probleme derart verschärft, dass selbst der Grünen-Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel, Alarm schlägt. Und einer der Problem-Hotspots ist die Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche, wo Krüger inzwischen keinen Obdachlosen mehr anspricht. Die Polizei hatte ihn davor gewarnt. „Sie sagte, es sei zu gefährlich.“

Hilfe und Nächstenliebe funktionieren nicht mehr

Die Kirche ragt unter den anderen Problemzonen heraus, weil hier die Welt der Nächstenliebe herrscht. Die evangelische Kirchengemeinde Tiergarten, zu der die Kaiser-Friedrich-Kirche gehört, arbeitet viel in der Obdachlosenhilfe. Sie ist für Notleidende da, sie hat einen diakonischen Auftrag, sie sieht in den Obdachlosen die Menschen, nicht die störenden Elemente.

Eigentlich.

Kein schöner Ort. Rund um die Kaiser- Friedrich-Gedächtnis-Kirche sammelt sich der Müll.
Kein schöner Ort. Rund um die Kaiser- Friedrich-Gedächtnis-Kirche sammelt sich der Müll.

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Aber in einem Büro in der Kirche seufzt Magdalena Stachura, die Geschäftsführerin der Kirchengemeinde. „Wir kommen ganz schnell an die Grenzen unserer Hilfsmöglichkeiten“, sagt sie. Die Situation habe sich extrem verschärft, die Verhaltensauffälligkeiten der Leute würden immer größer. „Wir haben mehr Aggressivität, mehr Beschaffungskriminalität und die Vermüllung ist enorm.“ Krüger sitzt daneben, sein Körper ist die ganze Zeit angespannt.

Sie hatten mal ein gedeihliches Miteinander, die Süchtigen, die Prostituierten, aber auch die paar Obdachlosen in der Nähe, sie alle mit der Kirchengemeinde. „Friedliche Koexistenz“ nennt Magdalena Stachura das. „Wir haben denen nichts getan, die uns nicht.“

2015 änderte sich die Situation.

Da tauchten erstmals Drogensüchtige auf und übernachteten an der Kirchenwand. Krüger weiß, dass es Afghanen waren, weil sie ihn nicht verstanden, als er sie ansprach. Erst als mal eine Dolmetscherin auftauchte und Farsi sprach, verstanden die Süchtigen. Als Gemeindemitglieder Müll wegräumten, fanden sie 50 benutzte Spritzen.

Der viele Müll ist das kleinere Problem

Dann gibt’s die andere Gruppe der Obdachlosen, Osteuropäer. „Unsere Helfer haben schlechte Erfahrungen mit der Aggressivität dieser Menschen gemacht“, sagt Magdalena Stachura. Dazu kommt der Müll, den alle hinterlassen. „Wir können doch nicht jeden Morgen zwei Stunden aufräumen, damit wir mit unserer diakonischen Arbeit anfangen können.“

Aber die Müllentsorgung ist ja nur das kleinere Problem der Gemeinde. Angst ist das viel größere Problem. „Das Sicherheitsgefühl der Menschen ist in Gefahr“, sagt die Geschäftsführerin. Die Zahl der Kirchen-Besucher nimmt ab. Es gibt einen Bibelkreis, es gibt zwei Chöre, wenn die Gespräche und die Proben zu Ende sind, dämmert es oder die Nacht ist schon hereingebrochen. „Da haben einige ein komisches Gefühl, wenn sie aus der Kirche gehen“, sagt Magdalena Stachura. Andere kommen erst gar nicht mehr in den Abendgottesdienst, viele Kirchgänger sind ältere Leute. Auch die meisten ehrenamtlichen Helfer sind Senioren. „Und diesen Menschen“, sagt Krüger, „kann man diesen Zustand nicht mehr zumuten.“ Die Beleuchtung rund um die Kirche ist miserabel, das kommt noch dazu.

Geschäftsführerin Magdalena Stachura und Küster Ernst Krüger
Geschäftsführerin Magdalena Stachura und Küster Ernst Krüger

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"Frostschutzengel" kümmert sich um Obdachlose aus Osteuropa

In ein paar Räumen der Kirche hatten bis Ende September auch die „Frostschutzengel“ ihre Beratungsstelle. Eine Hilfsorganisation, die mit Caritas kooperiert und vor allem Obdachlose aus EU-Staaten betreut. Petra Schwaiger ist die Projektleiterin der „Frostschutzengel“, sie versteht die Kirchengemeinde. „Dass die überfordert ist, das ist klar.“ Aber sie betrachtet die Situation rund um die Kirche weniger emotional. „Diese Leute sind hier, weil sie als EU-Bürger das Recht dazu haben.“ Man müsse auch jeden Fall individuell betrachten und prüfen. „Zum Beispiel die Frage: Wie findet man eine bedarfsgerechte Lösung.“ Eine verständnisvolle Ansprache an die Obdachlosen im Sozialamt wäre schon mal ein erster Schritt.

Von Krüger bekommen sie inzwischen keine Ansprache mehr. Der packt lieber mit an. Am Sonnabend räumten mehrere Dutzend Mitglieder der Kirchengemeinde Müll weg.

Lesen Sie zu den Problemen im Tiergarten auch den Leitartikel von Christian Tretbar: Die Sorge vor dem Staatsversagen

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