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Berlin: Küche statt Kneipe

Wladimir Kaminers „Russendisko“ war der Anfang. Mittlerweile sind Russen im Nachtleben fest verankert, auch wenn sie sich bevorzugt außerhalb der Szene treffen

Von Klaus Stimeder

Diese Hymne. DIE Hymne. Und das in diesem Haus. Wie einst Jimi Hendrix steht der Sänger einsam im Rampenlicht, der Schweiß rinnt in Strömen über den Bierbauch. Der Song, den er, unterstützt nur von seiner E-Gitarre, zum Besten gibt, ist die Hymne der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Der Ort ist der Tränenpalast an der Friedrichstraße. Jene Halle, wo die Grenzsoldaten des Arbeiter- und Bauernstaates einst über die Einhaltung der Ausreiseformalitäten wachten. Jetzt stehen da oben zehn ausgewachsene russische Mannsbilder und bringen das Publikum mit ihrer wilden Mischung aus Ska, Kalinka-Romantik und Tom Waits zur Ekstase. Der erste Deutschland-Auftritt der Gruppe „Leningrad“ geriet zu einem einzigen Triumphzug, mit dem Sowjet-Gitarrensolo als Höhepunkt.

Es tut sich was in der russischen Szene der Stadt. Kürzlich ließen es die sibirischen Kult-Punks von „Grazhdanskaya Oborona“ („Bürgerliche Verteidigung“) im Tacheles an der Oranienburger Straße krachen. Zuvor besuchten zwei der derzeit renommiertesten russischen Gruppen Berlin. „Auyktion" aus Sankt Petersburg begeisterten in der Kulturbrauerei, „Leningrad“ im Tränenpalast. Einer, der sich mehr als jeder andere über die derzeitige Hochkonjunktur russischer Bands freut, ist Wladimir Kaminer. Seine jeden zweiten Sonnabend im Monat abgehaltene „Russendisko“ im Kaffee Burger an der Torstraße gilt längst als Fixstern am Berliner Nachthimmel. Doch trotz der momentanen Aufregung um die Musik aus seiner Heimat sieht der Schriftsteller die Lage der russischen – oder russischstämmigen – Kulturschaffenden in Berlin nüchtern: „Es liegt an der Zahl. Wir sind nicht so viele. Die Türken zum Beispiel sind präsenter, weil sie einfach mehr sind.“

Gut 30000 Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion leben nach Angaben der Ausländerbehörde in Berlin. „In Politik, Wirtschaft und Kultur wird dieses Potenzial kaum genutzt“ sagt Olaf Mathies. Der 26-Jährige arbeitet am Osteuropa-Institut der Humboldt-Universität im Referat für Öffentlichkeitsarbeit. Was Politik und Wirtschaft bis jetzt nicht geschafft haben, nämlich Berlin zur Drehscheibe nach Osteuropa zu machen, wollen er und seine Freunde vorantreiben. Deshalb haben sie jetzt den Verein „Ostblick“ gegründet. Neben dem Herausgeben von Studienführern organisieren sie Lesungen, Vorträge, Podiumsdiskussionen und Partys zum Thema Osteuropa. Das jüngste Projekt ist ein Videoabend, auf denen russische Filme im O-Ton gezeigt werden. Mit deutschen Untertiteln. „Wir wollen ja keine geschlossene Gesellschaft“ sagt Mathies. Die „Ostblick“-Leute arbeiten eng mit dem Mudd Club in der Kleinen Hamburger Straße zusammen. Dessen Besitzer Steve Mass, Ex-New Yorker-Unterground-Legende und seit zwei Jahren in Mitte beheimatet, bemüht sich schon seit längerem, die Marktlücke Osteuropa in der Clubszene zu besetzen. Kein leichtes Unterfangen, findet Wladimir Kaminer. Der Exil-Moskauer führt dies auch auf unterschiedliche Lebensgewohnheiten zurück: „Die russische Ausgehkultur ist eine andere. In Moskau spielt sich das Leben nicht in Kneipen, sondern in Küchen ab.“

Was den deutsch-russischen Kulturaustausch angeht, kann Christoph Wachsmuth durchaus schon als Veteran gelten. In seinem „Dom Kultury“ („Haus der Kultur“) in Mitte, das gleich neben dem Kaffee Burger liegt, ist allabendlich die russische Künstlerszene zu Gast. Musiker, Maler, Dichter, aber auch Arbeiter und Büroangestellte. Die gegenwärtige Popularisierung des Russki-Sounds – die er selber mitbefördert hat, sämtliche CDs der oben erwähnten Bands kann man seit langem bei ihm kaufen – sieht er mit gemischten Gefühlen. „Wir gehören trotz allem noch zur Off-Kultur", sagt der 34-Jährige, der einst nach Moskau ging, um zu studieren. Mit dem Mainstream habe man im „Dom Kultury“ nicht viel gemein. Den repräsentieren Lokale wie der kürzlich eröffnete CClub in der Bismarckstraße 90 in Charlottenburg. Eine moderne Großraumdisco, in der sich die vermögendere Klasse bei russischen Chartstürmern und teuren Cocktails jeden Samstagabend ein Stelldichein gibt. In der Eigenwerbung heißt es: „Club mit Stil für Leute mit Stil“.

Gemeinsam mit Bekannten von der Website 007-Berlin.de, einem online-Ratgeber für die russische Community, plant Wachsmuth derzeit einen „alternativen russischen Stadtführer“ für Berlin. Er glaubt daran, dass die russischen und osteuropäischen Bürger das Stadtbild zukünftig entscheidend mitprägen werden: „Die Resonanz auf die Bands zeugen von einer neuen Qualität. Da muss man jetzt anknüpfen.“

Davon, dass die derzeitige Welle kein einmaliges Ereignis bleibt, ist auch Wladimir Kaminer überzeugt. „Es gibt viele Untergrundströmungen, die die Öffentlichkeit noch nicht erreicht haben“ sagt der Schriftsteller und dann erzählt er von jungen russischen Ska-Bands und von Russlanddeutschen Rappern, denen er seit geraumer Zeit im Internet auf der Spur ist.

Die Russen sind angekommen. Diesmal in ganz Berlin.

Infos im Internet:

www.ostblick.org

www.dk-berlin.org

www.russendisko.de

www.007-berlin.de

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