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Berlin: Andreas Römer (Geb. 1956)

Aber hey, wir sind Rockstars! Zweifel lassen wir uns nicht anmerken.

Ruhe! Der Chef erzählt, wie alles anfing!“ Ein Satz von ihm, ein geflügeltes Wort im Zitatenschatz der „Escalatorz“, einer West-Berliner Rockband der achtziger Jahre. Andreas sagte es mit diesem Unterton, der Distanz signalisierte: Der Chef bestimmt, wo’s langgeht, der Chef versteht keinen Spaß, der Chef säuft nicht mit der Belegschaft.

Aber wie hatte eigentlich alles angefangen?

1981 suchte der Chef einen neuen Gitarristen für die Escalatorz. Jemand gab den Tipp, er solle es doch mal mit diesem „Lömel“ versuchen. Eigentlich hieß er Andreas Römer, aber alle sagten Lömel – Römer auf Chinesisch. Der Chef nannte ihn Andreas, und Andreas blieb bei den „Escalatorz“ bis zum Schluss.

Ein gut aussehender Typ, sehr groß, sehr schlank, sehr lockig. Und er konnte Gitarre spielen! Er hatte seinen ganz eigenen Ton. Egal, was für eine Gitarre er spielte, auch die billigsten Instrumente klangen gut in seinen Händen, sein unverwechselbarer Ton. Wer wollte, hörte Ähnlichkeiten mit Jimi Hendrix oder Peter Green, Mick Taylor, Brian May. Und Keith Richards, dessen hohe Kunst der nicht gespielten Töne er beherrschte. Er war keiner dieser angeberischen Fiedler und Gniedler, kein Mann der falschen Posen. Und: Andreas war das treueste Bandmitglied, immer pünktlich, die Gitarre gestimmt, der Verstärker vorgeheizt.

Die Fans dachten: Wenn man die auf der Bühne sieht, wie sie zusammen spielen, die müssen die besten Freunde sein! Das waren sie nicht. Der Chef und Andreas wussten gar nicht, worüber sie miteinander reden sollten. Es blieb bei den Escalatorz-Sprüchen, die Außenstehende irritierten: „Morjenz!“ für Guten Tag. „Verstärker uff P max!“ für voll aufdrehen. „Öppf Öppf“ für Flaschenöffner, „Extrafein gehopft“, „Hart und kompromisslos“, „Erlaube mir kolossalen Achtungsschluck!“, „Pils morgen!“.

Andreas trank gerne Pils, eine Menge Pils. Es gibt viele Gründe für einen Musiker, Drogen zu nehmen, Pils zum Beispiel. Befeuerung der Kreativität. Ausschaltung des inneren Zensors. Lampenfieber. Die Furcht, sich einfach so hinzustellen und vor ein paar hundert Leuten den Affen zu machen, etwas von sich preiszugeben, von seinen Gefühlen, seiner Seele. Die Angst zu versagen. Die Selbstzweifel. Ist man gut genug? Und vielleicht auch noch eine geballte Ladung Schmerzen, vom Leben aufgebürdet, Vergangenheit und Gegenwart. Depressionen, unerfüllte Sehnsüchte. Was bringt die Zukunft? Das Älterwerden?

Aber hey, wir sind Rockstars! Zweifel lassen wir uns nicht anmerken. Schlucken wir runter. Hart und kompromisslos! Wenn Andreas das Lampenfieber und die Zweifel beim Chef spürte, sagte er: „Chef, ick sage nur: du musst mehr Pils trinken!“ Er selbst hat es dem Chef vorgemacht.

Pils in der einen Hand, Zigarette in der anderen, saß er frierend im Tourbus, er hat immer so schnell gefroren, und Rock- ’n’-Roll-Bands sind vorwiegend unterwegs, wenn es kalt ist: „Chef, Heizung uff P max, sach ick nur!“ Andreas trug einen dunklen, engen, sehr langen Pelzmantel. Der Chef nannte ihn „Zigarre senkrecht“, die anderen „kranker Rabe“. Das fand er lustig. Er lachte viel. Immer wieder erzählte er mit Vergnügen, wie „Müller mit dem Fahrrad voll uff die Fresse jefalln is, weeßte noch?“.

Manchmal erschrak er, wenn der Chef mal wieder keinen Spaß verstand, weil sich die Musiker auf Tour benahmen wie dumme Jungs auf Klassenfahrt. Jahre später noch erzählte Andreas, wie lustig das war, als Pflanz, der Saxofonist, im Intershop ein Bierfass gekauft hatte, mit Zapfanlage, und dann, beim Versuch, während der rüttelnden Fahrt die Zapfanlage zu installieren: „Irgendwatt hatter dabei eklatant falsch jemacht, und dann ist diese wahnsinnige Pilsfontäne losjeschossen, die mit jefährlichem Überdruck den chauffierenden Chef voll ins Jenick jetroffen hat. Die Klamotten vom Chef waren klatschnass.“ Andreas fand das viel lustiger als der Chef.

Wenn er auch fror, Andreas war gerne auf Tour mit den Escalatorz: „Kleene Tour käme mal wieder nich’ schlecht, Chef!“ Auch so ein Spruch. Die Tour nach Frankreich hatte ihm besonders gefallen. „Noch ’ne Dreiviertelstunde bis Bordeaux!“ Noch so ein Spruch.

Weil es wärmer war in Frankreich, und überhaupt Ausland, und weit weg und die Band in einem riesigen Nightliner-Bus unterwegs, mit Schlafkabinen, WC, Dusche und im Kühlschrank jede Menge geistiger Erfrischungen. Das stärkte den Rockstar-Nimbus. Vor allem aber gefiel es Andreas, weil in Bordeaux, im Goethe-Institut, die Band „die Lizenz zum Selberzapfen“ hatte, wie er es nannte. Deutsches Pils vom Fass zum Kulturaustausch. Als sie an einem spielfreien Tag ans Meer fuhren, blieb Andreas im Bus sitzen, mit Pils und Zigarette: „Rauskieken uffs Meer kann ick ooch von hier!“ Er saß einfach nur so da, im Bus, stundenlang: Pils und Zigarette und kiekte. Abends beim Konzert war er wieder der beste Gitarrist.

Auf einer anderen Tour, mittendrin, war der „kranke Rabe“ plötzlich ziemlich fertig. „Ick muss mich mal ablegen!“, sagte er nach dem Soundcheck in Dörverden. Nachdem die beiden Vorgruppen gespielt hatten, waren die Escalatorz dran: „Ey, wo is Lömel?“ Mit einer Ladung Wasser weckten sie ihn auf, schleppten ihn auf die Bühne, lehnten ihn mit dem Rücken an die Wand, hängten die Les Paul um seinen Hals: „Los ey, jetzt spielen, Alter!“ Und er trat nach vorne, schwankend und spielte alle an die Wand.

Irgendwann ging es aber doch nicht mehr. Andreas trank immer mehr und spielte immer schlechter, uninspiriert, als hätte er keine Lust mehr. Der Chef wollte schon einen neuen Gitarristen suchen, da hielt René, der Bassist, ein glühendes Plädoyer: „Das kannst du nicht machen, wir können Lömel nicht hängen lassen, den ziehen wir durch! Der macht einen Entzug, so lang legen wir die Band auf Eis!“

So sollte es sein. Andreas ging auf Entzug, keine leichte Sache, doch anschließend war er wieder der beste Gitarrist. Die Escalatorz spielten wieder, nahmen Platten auf, gingen auf Tour. Andreas war nicht mehr der kranke Rabe, nicht mehr so dürr und klapperig. Er trank nur noch Clausthaler, alkoholfrei.

Mit Otto und Matze baute er das eigene „Octosound Studio“ auf, produzierte andere Bands „und ooch Klassik!“, wie er stolz erzählte. Und plötzlich, irgendwann, ganz beiläufig hatte er wieder eine Pilsflasche in der Hand, „aktives Pils“. – „Was ist das denn? Was machst du denn da?“ – „Nee nee. Kann ja mal vorkommen. Echt, pilstechnisch allet unter Kontrolle! Allet in Maßen!“

Ging dann auch gut, die nächsten paar Jahre. Die Band spielte. Über die Dinge, die in den Musikern vorgingen, die sie sonst beschäftigten, die Zweifel, die Sehnsüchte, die Ängste, das Leben, sprachen sie nie. Ging nicht.

Schließlich aber, 1992, hatte der Chef das Gefühl, dass sie in eine Sackgasse geraten waren. Er löste die Band auf. Wie sehr ihnen die Folgen davon zu schaffen machten, auch darüber haben sie nie gesprochen. Sie verloren sich aus den Augen. Andreas spielte den Keith Richards in der Stones-Nachspielband „Brown Sugar“. Und Parkhauspop mit „Alle heißen Jürgen“.

Der Chef widmete sich dem Schreiben. Jahre später tauchte Andreas bei seinen Lesungen auf: „Außerordentlich herausragend, Chef, ick bin stolz uff dich!“ Aber was sollten sie sonst miteinander reden? „Weeßte noch, wie Müller voll uff die Fresse jeflogen is’? Und Pflanz mit der Zapfanlage im Bus? Ja, kleene Tour käme mal wieder nich’ schlecht! Kleene Reunion, watt meinste, Chef? Noch ’ne Dreiviertelstunde bis Bordeaux!“

Es wurde nichts daraus. Und sie trafen sich auf Beerdigungen wieder. Der Drummer Otto, Andreas’ Freund, war gestorben und ein Jahr später Ralle, der Roadie, auch Andreas’ Freund. Andreas war erschüttert, mehr als er es sich anmerken ließ. Nach einem zweiten Entzug fing er wieder mit dem Pilstrinken an – und er begann zu schreiben: unglaubliche, skurrile Geschichten, die ihm kaum jemand zugetraut hatte. Er schickte dem Chef Kostproben, bat um seine Meinung. Es entwickelte sich ein E-Mail–Kontakt, lange Briefe, und es wurde nach all den Jahren doch noch eine richtige Freundschaft. Die letzten zwei Jahre.

Anfang des Jahres brachte Maria, seine Frau, die sich 23 Jahre lang um den gemeinsamen Alltag gekümmert hatte, Andreas ins Krankenhaus. Der Chef besuchte ihn, stand da in seiner Hilflosigkeit und sagte: „Wenn du hier rauskommst, spielen wir noch mal zusammen, ja? Und wenn wir dich wieder mit dem Rücken an die Wand lehnen. Weißt du noch in Dörverden? Du bist der beste Gitarrist!“ Da hat er gelächelt und mit schwacher Stimme gesagt: „Ja, et jibt viele Möglichkeiten!“ Ein paar Tage später war er tot. H. P. Daniels

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