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Berlin: Reinhard Rzepka (Geb. 1952)

Warum das alles? Die Antwort fand er bei Aristoteles

Eins steht fest, er muss ein ziemlicher Pedant gewesen sein“, der Antiquar steht mit feinem Lächeln in seinem Laden am Adenauerplatz inmitten von kunstvoll geschichteten Bücherstapeln und lauscht seinen Worten nach. Er hat die Bücher von Reinhard Rzepka nach dessen Tod übernommen und gesichtet, fast 7000 sind es.

Was so grob klingen mag, spricht er voller Respekt und kollegialer Hochachtung aus. Von der Bibliothek schwärmt der Antiquar, ihrem Schwerpunkt auf der klassischen Philosophie, von Platon, Aristoteles über Kant und Leibniz bis zu Heidegger und Cassirer, immer ergänzt durch die neueste Sekundärliteratur. Abhandlungen zu Logik und Mathematik finden sich ebenso wie mehrere hundert Bände zu Geschichte und Verfassung der Europäischen Union. Dass Reinhard Rzepka nicht nur auf unzähligen Seiten karierten Papiers in seiner gestochen scharfen Kleinschrift Notizen und Anmerkungen zu jedem Werk gemacht hat, sondern auch die Angewohnheit hatte, selbst die kleinsten Druckfehler anzustreichen und zu korrigieren, zeige vor allem eins: Hier hat einer in seinen Büchern nicht nur gelesen, er hat in ihnen gelebt und gearbeitet.

Dabei war er Wirt. Morgens um sechs ging es los in den Großmarkt zum Einkaufen, danach die Vorbereitungen in der Küche, und nach dem Mittagsschlaf war es bald Zeit, das Lokal zu öffnen, das „Lavandevil“ in Charlottenburg. 30 Jahre lang stand er bis nachts hinter der Theke, und die meisten Gäste, denen er Bier, Wein und die schärfste Pizza des Bezirks servierte, wussten nichts von seinem unstillbaren Wissensdurst.

Schon während der Lehre zum Bäcker und Konditor und auch danach, als er das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachholte, hatte Reinhard, fünftes von acht Kindern einer Bergmannsfamilie, diesen Drang nach Klärung und Aufklärung, und das ausschließlich für sich selbst, ohne je ein großes Aufhebens darum zu machen. Warum das alles? Die Antwort fand er bei Aristoteles: Das Kennzeichen des Menschen sei es, dass er wissen will. Und Reinhard wollte fast alles Wissen.

Romanistik, Germanistik und Philosophie, dazu noch Publizistik und Soziologie, offenbar wollte Reinhard das geisteswissenschaftliche Angebot der Freien Universität so intensiv wie möglich ausschöpfen, als er Ende der siebziger Jahre von Düsseldorf zum Studium nach Berlin zog. Er machte Schein um Schein, fast immer mit Bestnote. Ein Examen abzulegen hielt er nicht für nötig.

Nebenher kellnerte er in einer Pizzeria, und als 1982 das persische Restaurant „Lavandevil“, benannt nach einem Ort am kaspischen Meer, frei wurde, kaufte er es zusammen mit seinen Studienkollegen Siggi und Marcel. Den Namen behielten die jungen Gastronomen, er klang exotisch und geheimnisvoll, und ihr Lokal wurde schnell ein Treffpunkt für die studentische Szene West- Berlins. Die Alternative Liste hatte in ihren ersten Jahren im „Lavandevil“ ihre Stammkneipe gefunden, Friedensplakate und Demo-Aufrufe hingen an den Wänden. Nach zehn Jahren löste sich das Betreiberkollektiv auf, und Reinhard führte die Geschäfte alleine weiter. Je unpolitischer die Zeiten wurden, umso mehr Politiker trafen sich im „Lavandevil“, erst ein Bezirksverband der SPD, dann die Linken und schließlich kamen sogar mal die alten Herren der kleinen liberalen Partei vorbei. Als passionierter Schachspieler organisierte Reinhard auch Turniere und Heimspiele des Stadtligisten „Hertha 06“, obwohl solche Abende schlecht für die Kasse waren. Die Spieler saßen konzentriert an ihren Brettern und wollten nüchtern bleiben.

Es gibt nicht mehr viele Gastronomen, die über die Jahre so mit ihrem Geschäft verwachsen wie Reinhard Rzepka. Er war das „Lavandevil“, wohnte eine Etage drüber, war immer vor Ort. Im Sommer die großen Fußballmeisterschaften mit Leinwand, landestypischen Buffets und Musik, an den Winterwochenenden nachmittags das Puppentheater für die Kinder.

Die Bibliothek blieb der stille Schutzraum seiner Gedanken, dort unternahm er die Reisen in die geistige Welt. Wann immer er etwas Ruhe hatte, las er und machte seine Notizen. Wenn Gäste ihn darauf ansprachen, verwies er darauf, dass es schon viel schlimmer war: „Jahrelang bin ich mit Nietzsches Zarathustra unterm Kopfkissen eingeschlafen.“ Tatsächlich hatte er als junger Mann einen Wortindex zu dem Buch herausgegeben, eine ungeheure Fleißarbeit.

„Manifestare ea, quae sunt, sicut sunt“, das war der Leitspruch des universalgelehrten Stauferkaisers Friedrich II. „Die Dinge, die sind, darzulegen wie sie sind“, sie zu analysieren und zu systematisieren, das war auch Reinhards Antrieb. Er mag darin sehr gründlich und penibel gewesen sein, abgehoben gegenüber anderen Menschen war er aber nie. Von seinem breiten Interesse profitierte er schließlich auch als Wirt. Ein Stammgast sagt: „Reinhard konnte sich mit allen über wirklich alles unterhalten.“ Sebastian Rattunde

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