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"Kinder, kommt rein, ihr verkühlt euch!" So richtig viele Linksextreme (wie hier Bewohner des Hauses Liebigstraße 34) wohnen wohl doch nicht bei Mutti.

© Jörg Carstensen/dpa

Wo wohnen Linksextreme in Berlin?: Die Nesthockerlegende

92 Prozent aller Berliner Linksextremisten wohnen noch bei Mutti. Das wurde zuletzt gern genüsslich kolportiert. Wer die Studie näher betrachtet, die dem Gerücht zugrunde liegt, merkt schnell: Da haben sich welche verrechnet.

Statistisch gesehen gibt es die Rigaer Straße mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht, zumindest nicht die von Linksextremen bewohnte Nummer 94. Statistisch gesehen wohnen Berlins Linksextreme nämlich zu Hause beziehungsweise „bei Mutti“, wie dieser Tage durchaus nicht unpaternalistisch in diversen Zeitungen zu lesen war. Als Grundlage dafür diente eine „Studie“ genannte Datensammlung des Berliner Verfassungsschutzes.

Und so kam zusammen, was zusammenzupassen scheint: So isser halt, der Linksextreme. Missmutig hockt er im Kinderzimmer und weiß nichts mit sich anzufangen, obgleich schon Anfang 20. Also heckt er Böses aus und terrorisiert alle, nicht zuletzt seine Eltern, wenn dann passiert, was statistisch gesehen meist samstagabends passiert: Der junge Linksextreme randaliert. „N’Abend, Frau Krahl“, sagt dann später der Beamte, „unten im Wagen sitzt Ihr Hans-Jürgen. Der Junge hat Landfrieden gebrochen, was sagen Sie jetzt?“

In diese etwas schematische Welt des statistisch gestützten Klischees passt die Rigaer Straße 94 auf den ersten Blick nicht so gut rein. Im Internet kursiert ein Video des Polizeieinsatzes, bei dem ein angeblicher Müllsackwurf auf die Beamten zu einer Hausdurchsuchung führte. Und zumindest in diesem Video fällt der Müllbeutel mehrere Meter von den Polizisten entfernt auf den Boden eines unaufgeräumten Hinterhofs. Gepaart mit einer etwas verpupst daherkommenden Beschimpfungstirade verfestigt das schnell den Eindruck: Mutti wohnt hier gar nicht, die haben sich selbst so eingerichtet.

So isser halt, der Linksextreme. Missmutig hockt er im Kinderzimmer und weiß nichts mit sich anzufangen

Natürlich: Man kann in ihnen Spinner sehen, nicht zuletzt weil sie nerven mit schlichten Sprüchen und Punkrock, einem der ödesten Musikstile, die je ersonnen wurden. Für bedeutend klüger scheint man im Berliner Amt für Verfassungsschutz die Öffentlichkeit aber auch nicht zu halten, wenn man halbgare Studien rausbläst. Offenbar zu Recht, anders ist die anschließende Aufregung in den diversen Zeitungen kaum zu erklären.

Das sind die Zahlen: Es geht um rund 1500 Fälle linker Gewalt in den letzten fünf Jahren. Bei mehr als 900 davon hat die Polizei keine Personalien ermitteln können; bleiben insgesamt gut 600 Taten, bei denen überhaupt Verdächtige festgestellt wurden. Wohlgemerkt: Verdächtige, nicht Verurteilte.

Ob Gerichtsverfahren in die Wege geleitet wurden – man weiß es nicht. Was man weiß, ist, dass es sich zwischen 2009 und 2013 insgesamt um 873 Menschen handelt, denen die Polizei Straftaten vorwirft. Das ist die Datenbasis in Sachen Linksextreme in Berlin. 873 mutmaßliche Straftäter in fünf Jahren. Nicht grad viel für eine Studie, aber immerhin.

Dass 92 Prozent Linksextreme bei den Eltern wohnen, glaubt indes nicht einmal der Verfassungsschutz. Denn dazu, wie und mit wem sie wohnen, haben sich bei der Polizei nur 65 der 873 geäußert. Und so schreiben die Autoren der Studie auch, die Zahlen seien „in keiner Weise repräsentativ“, nicht vergleichbar mit Vorgängerzahlen undsoweiter.

Und man muss ja wirklich nur ein bisschen rechnen können. Oder wollen. Wenn von 65 Personen nun 92 Prozent sagen, dass sie bei ihren Eltern wohnen, dann sind das 59,8 Personen. In fünf Jahren. Anders gesagt: Statistisch gesehen hat die Berliner Polizei in den Jahren 2009 bis 2013 jedes Jahr insgesamt 11,96 mutmaßlich linksextreme Straftäter aufgegriffen, die angaben, noch zu Hause zu wohnen.

Eine sinnvolle Frage könnte nun sein, wie das mit den insgesamt rund 2500 Linksextremisten zusammenpasst, die laut Verfassungsschutz in Berlin leben. Aber was ist schon sinnvoll im Wahlkampf? Und für wen? Wenn ein Großteil der Täter noch bei den Eltern wohne, dann müsse da auch die Prävention ansetzen, ist vom CDU-Innenpolitiker Peter Trapp zu lesen. „92 Prozent der politischen Zwerge wohnen noch bei Mutti“, twittert der SPDler Tom Schreiber, „sie kämpfen also gegen Dinge, von denen sie nichts verstehen.“

Eine bemerkenswert Mutti-feindliche Aussage, könnte man meinen, vor allem aber eine verständnisfeindliche. Statistisch gesehen leben 0,5 Prozent aller Berliner Linksextremisten noch zu Hause. Politisch gesehen können das selbstverständlich 92 Prozent sein.

Dieser Text erschien zunächst als Rant in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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