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Ziemlich zufrieden mit der Regierung: Verdi-Chef Frank Bsirske. Großen Handlungsbedarf sieht der Gewerkschafter nach wie vor bei öffentlichen Investitionen.

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Verdi-Chef Frank Bsirske im Interview: "Die Schwarze Null ist verrückt"

Im Interview mit dem Tagesspiegel spricht Verdi-Chef Frank Bsirske über große Koalitionen, schwarze Nullen, Steuersenkungen - und seine beruflichen Pläne.

Herr Bsirske, wie war das Jahr?

2014 hat eine Reihe positiver Entwicklungen gebracht: Die Beschlüsse zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, zur Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen und die Möglichkeit der Rente ab 63. Das alles ist eine Teilabkehr von der Agenda 2010.

Die Sie als Ihre größte Niederlage ansehen.

Das war vor allem eine Niederlage für Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Agendapolitik zielte auf Entsicherung. Mit befristeten Arbeitsverträgen, Leiharbeit und Minijobs, Armutslöhnen und Scheinselbstständigkeit bedeutete das für viele die Rückkehr der Unsicherheit. Hier hat es in diesem Jahr teilweise eine Korrektur gegeben.

Hat Sie das mit der SPD versöhnt?

Die Koalition ist mit beachtlicher Tatkraft gestartet, und die SPD hat die Rolle des Motors übernommen. Das gilt für die Re-Regulierung auf dem Arbeitsmarkt, für die Frauenquote und die Schritte zu einer Marktintegration der erneuerbaren Energien. Da kann man vieles der SPD zurechnen. Aber auch Angela Merkel hat zu ihren Überzeugungen gestanden, etwa beim Thema Frauenquote. Und die Wertschätzung der Sozialpartner, die ja entscheidend zur Überwindung der Finanzkrise 2009 beigetragen haben, ist Frau Merkel auch anzumerken.

Sie sind ein Merkel-Fan geworden?

Ich finde, dass sie bemerkenswerte Eigenschaften hat und eine kluge, reflektierte Politikerin ist.

Vermutlich haben wir ja noch einige Jahre das Vergnügen.

Das kann schon sein, gut möglich. Wo ihr Vorgänger autoritär wurde, beginnt sie zu argumentieren – das ist ein beachtlicher Fortschritt. Und sie steht zu ihrer Politik und lässt sich nicht beeindrucken von sogenannten Wirtschaftsweisen, die den noch gar nicht eingeführten Mindestlohn als Erklärung für die schwache Konjunktur anführen. Das kommt aus der ideologischen Mottenkiste und ist der Versuch, überholte neoliberale Positionen, die ja das Fundament der Agendapolitik waren, wiederzubeleben.

Die Agenda 2010 hat zweifellos einen Anteil am robusten Arbeitsmarkt.

Wir haben seit dem Jahr 2000 fast keinen Anstieg des Arbeitsvolumens. Das ist ein Indiz dafür, dass es eine massive Umverteilung zu mehr Teilzeit und Minijobs gegeben hat.

Die Alternative wären mehr Arbeitslose.

Die Alternative wäre eine Politik gewesen, die das Binnenwachstum systematisch gefördert hätte. Auch deshalb haben wir doch inzwischen national und international eine Debatte, was die Bundesrepublik tun kann und tun sollte, um die Stagnation in Europa zu überwinden und die Gefahr einer Deflation zu bekämpfen.

Alles auf einmal geht nicht, die Regierung hat sich für die schwarze Null im Bundeshaushalt 2015 entschieden.

Das ist ein Problem. In einer Zeit, in der der Staat beinahe umsonst Schulden machen kann, halten wir uns mit öffentlichen Investitionen in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur zurück. Das ist verrückt, denn wir haben ja einen eklatanten Investitionsbedarf.

Finanzminister Schäuble hat immerhin ein Investitionsprogramm von zehn Milliarden Euro bis 2018 angekündigt.

Es ist völlig unklar, wann und wofür. Und mit dem Programm ist die Ankündigung verbunden, die Mittel an anderer Stelle sparen zu wollen. Das ist also eher ein Placebo, das der Beruhigung und der internationalen Kritik dient.

Wenn sich Frank Bsirske, Mitglied der Grünen, entscheiden muss, ob in neue Straßen investiert oder die kalte Progression abgeschafft werden sollte, dann plädieren Sie für die Investitionen?

Der Verdi-Vorsitzende hat durchaus Sympathien dafür, das Thema kalte Progression anzugehen – wenn die Gegenfinanzierung gewährleistet ist. Ich wüsste auch wie: Die Schweizer Großbank UBS hat kürzlich eine Studie vorgestellt, wonach die Superreichen - dass sind die mit 30 Millionen Euro Vermögen und mehr – zuletzt einen Vermögenszuwachs um zehn Prozent hatten. Inzwischen beträgt das Geldvermögen der Superreichen 2,58 Billionen Euro. In Deutschland verdankt sich dieses Vermögen vor allem Erbschaften. Das kategorische Nein der CDU/CSU verhindert, dass hier angesetzt und Deutschland als Steueroase für Superreiche etwas trockengelegt wird.

Der SPD-Vorsitzende Gabriel hält nichts von höheren Steuern.

Er bezieht sich mit dieser Position offenbar auf den Koalitionsvertrag. Aber die Frage der Finanzierung der öffentlichen Haushalte und die Frage, wie der riesige öffentliche Investitionsbedarf gedeckt werden kann, ist und bleibt die offene Flanke dieser Koalition.

Hilft das Wachstumsprogramm der EU- Kommission nicht auch der deutschen Politik auf die Sprünge?

Was Kommission und EZB machen, ist ja die Reaktion auf die Gefahr einer deflationären Entwicklung. In Japan konnte die Deflation über 25 Jahre nicht überwunden werden. Damit das in Europa nicht auch passiert, hat die EZB den Leitzins auf knapp über null gesenkt und erwägt den Kauf von Ramschpapieren, um so die Kreditvergabe in den südeuropäischen Ländern zu erleichtern. Das zeigt, wie besorgniserregend außerhalb Deutschlands die Situation empfunden wird. Und die Bundesregierung tut nichts.

Was Arbeitnehmer 2015 erwarten können

Ziemlich zufrieden mit der Regierung: Verdi-Chef Frank Bsirske. Großen Handlungsbedarf sieht der Gewerkschafter nach wie vor bei öffentlichen Investitionen.
Ziemlich zufrieden mit der Regierung: Verdi-Chef Frank Bsirske. Großen Handlungsbedarf sieht der Gewerkschafter nach wie vor bei öffentlichen Investitionen.

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Immerhin wächst die deutsche Wirtschaft.

Auch deshalb hat das größte und wirtschaftlich stärkste Land in Europa die größten Handlungsspielräume und wird dennoch seiner Verantwortung für Europa nicht gerecht. Es passiert einfach zu wenig. Die Verabsolutierung der Schwarzen Null als Maßstab der Finanz- und Wirtschaftspolitik belegt, dass es an der notwendigen Erkenntnis noch mangelt.

Dann bleiben ja nur fette Tarifabschlüsse für eine robuste Binnennachfrage.

Das war in den vergangenen Jahren auch schon so.

Haben Sie sich da nichts vorzuwerfen? Die Einkommensentwicklung im öffentlichen Dienst zum Beispiel bleibt hinter der Privatwirtschaft zurück.

Mit den letzten Abschlüssen haben wir den Abstand verringert. Am 18. Dezember entscheiden wir über die Tarifforderung für die Bundesländer, und auch dabei werden wir uns bemühen, den Abstand weiter zu verringern. Ferner stehen im kommenden Jahr Tarifverhandlungen bei der Post, im Einzelhandel und bei den sozialen Berufen an. Gerade bei den sozialen Berufen stellen wir uns auf eine schwierige Auseinandersetzung ein, weil wir diese Berufe aufwerten wollen.

Was schwebt Ihnen vor?

Wir wollen, dass zum Beispiel das Personal in den Kitas – 95 Prozent sind Frauen – als pädagogische Facharbeiter bezahlt werden.

Bei VW bekommt ein Facharbeiter im ersten Berufsjahr gut 3000 Euro, eine Erzieherin liegt bei 2700 Euro.

Diese Differenz wollen wir ausgleichen, weil es dafür auch keine vernünftige Erklärung gibt. Im Gegenteil: Die Erzieherin hat aufgrund der Veränderungen in der Gesellschaft und der Auflösung der traditionellen Familienstruktur heute viel mehr zu leisten als vor 20 Jahren. Und der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund ist heute viel größer. Entsprechend müssen diese Berufe auch bezahlt werden. In einer Kita in Hannover hat mir kürzlich die stellvertretende Leiterin erzählt, sie sei jetzt 29 Jahre im Beruf und würde ebenso viel verdienen wie ihr Neffe, der jetzt nach einer dreijährigen Berufsausbildung als Chemielaborant in der Industrie anfängt. Da stimmt was nicht, das wollen wir ändern.

Dann können sich die Eltern auf steigende Kitagebühren einstellen.

Natürlich bringt das finanzielle Belastungen, die über die Kommunalhaushalte letztlich gedeckt werden müssen. Es ist aber inzwischen unstrittig in der Gesellschaft, dass diese Arbeit anspruchsvoll ist und eminent wichtig für den Bildungserfolg. Dieser Erkenntnis und den vielen schönen Worten müssen nun Taten folgen. Wer gute Arbeit erwartet, der braucht gute Leute und muss gutes Geld bezahlen.

Im Herbst nächsten Jahres stellen Sie sich noch einmal zur Wiederwahl. Ist das nicht gewagt angesichts Ihrer Bilanz? Seit der Verdi-Gründung 2001 hat die Gewerkschaft unter Ihrer Leitung unterm Strich 750.000 Mitglieder verloren.

Wir haben massive Umbrüche in unseren Branchen erlebt – bei der Post, im Energiebereich, bei der Telekom und im Handel, um nur einige zu nennen. Das hinterlässt Spuren in der Mitgliederbilanz. In anderen Bereichen, etwa den sozialen Erziehungsdiensten und in Krankenhäusern gewinnen wir aber dazu. Aber klar: Es ist noch jede Menge zu tun. Und ich will noch etwas bewegen.

Das Gespräch führte Alfons Frese.

KARRIERE

Frank Bsirske (62) führt die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi seit ihrer Gründung im Jahr 2001. Zuvor war er Chef der ÖTV, eine der fünf Organisationen, die zu Verdi fusionierten. Bsirske, in Helmstedt geboren, studierte Politikwissenschaften und arbeitete unter anderem als Personalreferent in Hannover. Bsirske ist Mitglied der Grünen.

GEWERKSCHAFT

Mit rund zwei Millionen Mitgliedern ist Verdi nach der IG Metall die größte Gewerkschaft. Verdi umfasst ein paar Dutzend Branchen und an die tausend Berufe. Im nächsten Herbst steht der alle vier Jahre stattfindende Bundeskongress an, auf dem Bsirske noch einmal für vier Jahre gewählt werden will. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht.

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