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Liebt die Figuren. Die Schriftstellerin Annegret Held, geboren 1962 in Pottum im Westerwald.

© Olivier Favre/Verlag

Annegret Helds Roman "Die Armut ist ein brennend Hemd": Gott beim Donnern helfen

„Die Armut ist ein brennend Hemd“: Annegret Held setzt ihre großartige Scholmerbach-Trilogie fort.

Es war Martin Walser, der Literatur einmal als die Geschichtsschreibung des Alltags bezeichnet hatte. Was wüssten spätere Zeiten vom „wirklichen“ Leben, wenn es nicht in der Literatur festgeschrieben wäre? Oder von den Lebensgeschichten von Apollonia, Charlotte, Bettchen, Fine, Anna oder Margarete aus Scholmerbach, von denen lediglich die Namen im Kirchenbuch stehen, wie Annegret Held in ihrem neuen Roman „Die Armut ist ein brennend Hemd“ konstatiert. „Ihre Geschichten hat keiner erzählt, und keiner kann sich recht an sie erinnern, man hat sie auf dem Kirchhof vergraben und sich nichts, aber auch gar nichts von ihnen behalten. Sie waren ja bloß von Scholmerbach."

Scholmerbach, dieses kleine fiktive Örtchen, liegt am Ende der Welt, vielleicht sogar noch ein bisschen dahinter, im ganz realen Westerwald, der nicht von ungefähr für seinen kalten Wind berühmt geworden und geblieben ist. Bis mitten ins 20. Jahrhundert hinein gab es hier kaum etwas, außer Kartoffeln und Rüben, die man essen und aus denen man Schnaps brennen konnte. Und wenn die Kartoffelernte ausblieb, gab es halt nur noch den Hunger und in der Folge Platznot auf den Friedhöfen. „Gott, hier war doch nichts, sagten die alten Leute, wir waren nichts, wir hatten nichts, da gab es nichts, gar nichts."

Das galt für lange Zeit genauso für den Hunsrück – bis der Filmemacher Edgar Reitz sein Schabbach zu einem Inbegriff von Heimat werden ließ. Und Scholmerbach im Westerwald ist nun durch die 1962 geborene Schriftstellerin Annegret Held auf dem besten Weg, zu den großen Literaturlandschaften der Weltliteratur zu werden, so wie Faulkners Jefferson in Yoknatapawpha County, wie Uwe Johnsons Jerichow im Mecklenburgischen, so wie die alemannische Heimat von Martin Walser. Helds Roman „Die Armut ist ein brennend Hemd“ ist die rückwärts voranschreitende Fortsetzung ihres letzten Romans „Apollonia“, der Geschichte ihrer Großmutter und ihrer eigenen Beziehung zu dieser bemerkenswerten, starken Frau aus einer bemerkenswerten und uns doch völlig unbekannten Gegend. Ein dritter Teil soll noch folgen, und zwar bis ins 17. Jahrhundert führend.

Blut düngte einst die heimatliche Scholle

Scholmerbach trägt viele Züge Pottums, einem Westerwalder Kaff, in dem Held geboren und aufgewachsen ist. Dort stand einst, in ihrer Jugend, auch „Die Baumfresserin“, jene große Maschine in einem Sägewerk, die einem ihrer besten Romane den Titel gegeben hat.

Der Begriff Heimat hatte über Jahrzehnte hinweg keinen gutem Ruf. Auf der heimatlichen Scholle war nun einmal der Boden mit Blut gedüngt. Der Westerwald aber, „dieses Land aus Wind, Nebel und Schnee“, bietet keinen Nährboden für Ideologien. Steinige Äcker, karges Land, auf dem kaum etwas wächst, außer eben Kartoffeln und Rüben. Erst nach der großen Hungersnot um die Mitte des 19. Jahrhunderts werden endlich Apfel- und Birnbäume gepflanzt, wie man bei Annegret Held erfährt. Der Herzog setzt neue Methoden der Bewirtschaftung durch. Die Menschen, die aus ihrer Heimat kaum je raus- und wenn, nur selten wiederkommen, sind allem Neuen gegenüber wenig aufgeschlossen. Schon Limburg, der Bischofssitz, ist weit weg. Stur waren die Westerwälder immer schon – darüberhinaus sind sie allzu oft, in all ihrer Not, auch noch versoffen.

Ihr Seelsorger in Scholmerbach ist der Pfarrer Vinzenz, der uns bei Annegret Held durch ein halbes Jahrhundert begleitet. Vinzenz gibt es schon bald auf, gegen den Alkohol zu kämpfen. Er prangert die Sünden an, zeigt sich aber im Laufe der Jahre den Sündern gegenüber immer gnädiger, auch wenn es ihm die reine Lehre nach wie vor verbietet. Die Not ist groß, die Verhältnisse bessern sich kaum. Und Gottes Wort, schon gar wenn es aus dem Munde des Pfarrers kommt, es gilt. Die üble Rolle der Kirche über ganze Jahrhunderte hinweg wird in Helds Roman, unausgesprochen, an vielen Stellen überdeutlich.

Imponierende Frauengestalten ziehen vorüber

Wie aber erzählt man die Geschichte dieser Landschaft? Und zwar 1806 bis 1856. Von der napoleonischen Besatzung über die Freiheitskriege, den Vormärz und die Revolution von 1848, die in schwachen Ausschlägen auch die Täler des Westerwalds erreichte, der Wiederherstellung von „Recht und Ordnung“ bis zur Überwindung der großen Hungersnöte? Wie beschreibt man eine Zeitenfolge, die durch ihren Stillstand, das Immergleiche, Hunger, Elend, harte Arbeit, Not und Leiden geprägt ist?

Annegret Held macht das in Form von Familiengeschichten, Elementen einer Chronik, individuellen Porträts, Reiseabenteuern oder Anekdoten. Sie erzählt von Mädchen, die verkauft werden – nach Frankreich, in die Hafenkneipen von London. Einige kommen unbeschadet zurück, andere verletzt, dauerhaft gebrochen, viele verschwinden spurlos, manche machen in der Fremde ihr Glück. Eine lange Reihe von oft imponierenden Frauengestalten zieht an uns vorüber, von Charlottes, Bettchens oder Fines – und immer wieder wird gestorben: „In diesem Winter starben die Leute von Scholmerbach aufrecht sitzend in ihren Häusern, und der Kirchhof hinter seinen Buchsbaumhecken verwahrte sich mit seiner eiskalten Erde dagegen, ihre Leiber aufzunehmen.“

Und dann, im Frühjahr darauf: Bettchen, eine der vielen Frauenfiguren dieses Romans, trifft den Pfarrer, der sie bittet, ihm beim Aufräumen des Kirchhofs zu helfen. Unglücklicherweise beginnt es auch noch stark zu regnen. Plötzlich ein Schrei, ein „gellender Schrei“. Pfarrer Vinzenz sieht, wie Bettchen „vor einem Knochen aus Müllerkarls Grab zurückwich, der vom Regen blankgeschüttet aus der Erde ragte.“ Überall werden Zipfel der Totenhemden und Knochenteile herausgeschwemmt. „Die Toten“ rächen sich „in ihren zerfallenen Hochzeitsgewändern für die halbherzigen und kraftlosen Begräbnisse des Winters“. Und Pfarrer Vinzenz, na klar, sieht hier wieder einmal den Satan selbst am Werk.

Es gibt keine fortlaufende, schon gar keine durchgehende Handlung in „Die Armut ist ein brennend Hemd“. Leitmotive schon. Zusammengehalten wird das Ganze durch eine eigentümliche Sprache, die viele Dialektelemente enthält. Und die wie eine Kunstsprache wirkt, angelehnt an jenes Deutsch, das vor 150 Jahren in dieser Gegend vermutlich gesprochen und zum Teil geschrieben wurde.

Held hat viele Dokumente ausgegraben und umfangreiche Recherchen betrieben, selbst in England und Australien. Aus diesen Unmengen von Material hat sie eine nicht nur informative, sondern zudem gut lesbare Geschichte geformt; Zeitgeschichte und Lebensgeschichten. Man spürt in jeder Zeile, dass Annegret Held an ihren Figuren hängt. Man spürt aber auch, dass sie von Menschen schreibt, die allesamt wie Büchners Woyzeck von sich sagen können, wenn sie dereinst einmal in den Himmel kommen sollten, dann doch nur, um beim Donnern zu helfen.

Annegret Held: Armut ist ein brennend Hemd. Roman, Eichborn Verlag, Köln 2015. 367 Seiten, 22 €.

Martin Lüdke

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