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Kultur: Bilder einer Namenlosen

In Theresienstadt ermordet: Die Berliner Künstlerin Julie Wolfthorn wird wieder entdeckt – Eine Spurensuche

Von

Stefanie Müller-Frank

Bilder wie diese dürfte es gar nicht geben. Eine Menschenmenge, die dicht gedrängt auf die Essensausgabe wartet. Oder die Eisenbahnwaggons, aus denen graue Gestalten steigen und eine Schlange bilden. Eine unscheinbare Bleistiftzeichnung in der Größe eines Din-A 4-Blatts zeigt das Antlitz einer älteren Frau, auf deren Gesichtszügen eine Ahnung dessen liegt, was sie erwartet. Sie sitzt auf einem Lehnstuhl, eingehüllt in eine Decke, die Arme über dem Bauch verschränkt. „Rekonvaleszentin" heißt das Bild, obwohl die müden Augen nicht die einer Genesenden sind. Es stammt von Julie Wolfthorn. Sie hat es mit ihrem Namen signiert und auf den 6. September 1943 datiert. Doch ob es sich um ein Selbstporträt der jüdischen Künstlerin handelt, die im Oktober 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde und dort umkam, oder um das Bildnis einer Mitinsassin, ist bis heute ein Rätsel. 64 Zeichnungen und Aquarelle haben das Konzentrationslager überlebt. Doch es sind Bilder von Namenlosen.

„Meine Mutter hat das Konvolut aus Theresienstadt mitgebracht“, erzählt Pit Goldschmidt mit leiser, vorsichtiger Stimme, „sie wurde 1943 deportiert und arbeitete in der Lagerbibliothek. In Theresienstadt gab es sehr viele jüdische Prominente, darunter auch einige namhafte Künstler. Die hatten aber kein Malpapier, also hat meine Mutter für sie die leeren Seiten aus den Bibliotheksbänden herausgerissen. Die Zeichnungen und Aquarelle, die auf diese Weise entstanden, hat sie dann in den Büchern wieder versteckt." Als Käthe Starke, geborene Goldschmidt, das KZ nach der Befreiung verließ, nahm sie eine große Anzahl der Kunstwerke mit und brachte sie nach Hamburg, wo sie erst im Frühjahr dieses Jahres als so genanntes „Theresienstadt-Konvolut“ zum ersten Mal vollständig ausgestellt wurden. Darunter auch das Bild der „Rekonvaleszentin" – ein Selbstbildnis Wolfthorns, davon ist Pit Goldschmidt überzeugt.

„Pure Spekulation“, empört sich eine Sammlerin aus Norddeutschland, die eine ganze Reihe von Wolfthorn-Werken besitzt. „Ich habe die Zeichnung mit früheren Fotografien verglichen, und es besteht überhaupt keine Ähnlichkeit." Ihren Namen möchte die Rentnerin nicht preisgeben. Sie versteht sich als Nachlassverwalterin von Julie Wolfthorn, seit eine Bekannte ihr nicht nur mehrere Briefe und Gemälde der Künstlerin vererbt hat, sondern auch das Vermächtnis, deren Leben und Werk aufzuarbeiten. So sucht sie seit vier Jahren nach Gemälden, die in der Mehrzahl als verschollen gelten. Denn nach Wolfthorns Deportation wurde deren Wohnung in der Kurfürstenstraße 50 sowie ihr Atelier von den Nationalsozialisten beschlagnahmt. „Es müssen eine ganze Menge Bilder gewesen sein", sagt die Sammlerin, „schließlich war Julie Wolfthorn in Berliner Künstlerzirkeln bekannt. Von vielen jüdischen Familien wurde sie als Porträtistin geschätzt.“ Die Sammlerin hat Nachkommen emigrierter Juden in Israel aufgesucht. Sie haben ihr Kinderporträts gezeigt, die bei Wolfthorn in Auftrag gegeben worden waren.

Doch sie ist bei ihrer Spurensuche auch auf Schwierigkeiten gestoßen. Auktionshäuser hätten ihr nicht selten jede Auskunft über die Herkunft der zur Versteigerung freigegebenen Kunstwerke verwehrt – aus Angst vor Rechtsanwälten, die im Auftrag jüdischer Erben nach dem Verbleib verschollener Familiengüter forschen.

Allerdings, so gesteht die Sammlerin, ist sie selbst auch vorsichtiger geworden: „Ich überlasse meine Stücke nicht mehr jedem, der sie für eine Ausstellung ausleihen möchte. Sie sind unersetzbar und ich muss sichergehen, dass sie nur in die Hände von Fachleuten kommen.“ Einer Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg lieh sie Landschaftsgemälde von Julie Wolfthorn aus. „Aber selbst da konnte ich erst ruhig schlafen, als die Bilder wieder bei mir waren.“

Wie mit dem Werk Julie Wolfthorns umgegangen wird, findet Sabine Krusen vom Berliner Frauentreff Brunnhilde unverantwortlich. „Die bisherigen Ausstellungen spiegeln überhaupt nicht den Stand meiner Nachforschungen wider“, klagt sie, „außerdem werden falsche Lebensdaten verwendet.“ So kam es zum Streit zwischen ihr und dem Galeristen Wolfgang Watzlaf, der in einer Ausstellung über das Umfeld des Malers Anton von Werner auch Kopien einiger Wolfthorn-Gemälde zeigt.

Für den Frauenverein in Mitte geht das nicht weit genug. Er hat sich zum Ziel gesetzt, in Kalendern, Zeitschriften und Ausstellungen auf fast vergessene Biographien von Berliner Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen aufmerksam zu machen. Krusen ist dabei zufällig auf Julie Wolfthorn gestoßen und bewundert die Malerin seither vor allem für den Mut, mit dem sie sich für die Berufschancen von Künstlerinnen im Kaiserreich eingesetzt hat.

Am 2. Mai 1898 wurde unter dem Vorsitz von Max Liebermann die „Berliner Secession“ gegründet, um gegen das spießige Kunstverständnis Wilhelms II. anzugehen („Kunst soll schön sein und dem kleinen Mann nach mühevoller Arbeit gefallen“). Julie Wolfthorn war eine von fünf Frauen, die dem Gründungsgremium angehörten. Bis 1918 waren Frauen nicht zum Kunststudium an der Königlichen Akademie zugelassen. Als Berliner Künstlerinnen – darunter auch Julie Wolfthorn und Käthe Kollwitz – eine Aufhebung dieses Verdikts forderten, wurden sie vom Akademiepräsidenten Anton von Werner brüsk abgewiesen. So blieb sie lange eine der Wenigen, die ihren Lebensunterhalt durch Auftragsarbeiten und Unterricht zu sichern vermochte, indem sie ein Schülerinnenatelier unterhielt.

Sabine Krusen plant für das Jahr 2004 eine Ausstellung über Julie Wolfthorn. Es empört sie, dass die Werke einem breiten Publikum nicht zugänglich gemacht werden. „Es gibt zwar Bilder in öffentlichen Sammlungen, doch die lagern nur in Depots.“ Gemeint sind eine Reihe von Landschaftsbildern im Besitz der Berlinischen Galerie. Oder die zwei Porträts von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer im Literaturarchiv Marbach. „Und die privaten Sammler geben ja sowieso nichts raus.“

Da hat Heike Carstensen, die an der Hochschule Kiel eine Doktorarbeit über Julie Wolfthorn schreibt, ganz andere Erfahrungen gemacht: „Zum Glück stellt mir eine Sammlerin ihre Dokumente zur wissenschaftlichen Auswertung jederzeit zur Verfügung“, erklärt sie. Anders könnte sie gar nicht arbeiten. Wolfthorns kunsthistorische Bedeutung geht vor allem auf ihr Wirken als Porträtistin berühmter Zeitgenossen zurück, mit denen sie meistens auch freundschaftlich verbunden war. So mit dem Schriftsteller Richard Dehmel und seiner Frau Ida. Da Wolfthorn auch dem Reformerkreis um den Architekten und Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, Hermann Muthesius, angehörte, malte sie um 1900 ein Porträt seiner Frau Anna, einer grazilen, jungen Dame mit ausladendem Hut. Gedankenverloren hat sie die Arme auf ein Fauteuil gestützt, der Blick geht am Betrachter vorbei. Ein für Wolfthorn charakteristisches Frauenbildnis: in jenem dunkel-melancholischen Stil gemalt, der sowohl die morbide Stimmung des Fin de Siècle aufnimmt, als auch den überwiegend berufstätigen Frauen, wie der Schauspielerin Tilla Durieux oder der Opernsängerin Irmgard Scheffner, ihre Eigenständigkeit belässt.

Nach 1905 konzentrierte sich Julie Wolfthorn verstärkt auf Landschaften. Sie reiste in die Künstlerkolonien Ascona, Grez-sur- Loing und Worpswede, und malte während ihrer Aufenthalte im Haus der Familie Muthesius auf Hiddensee. Ganz im Gegensatz zu ihren teils düsteren, aber fest strukturierten Charakterstudien, neigte sie bei ihren See- und Dünenlandschaften, zum Beispiel „Zwei Frauen am Strand", zu heiteren Farben und impressionistischen Pinselstrichen. Liebermanns Strandbilder, die zur gleichen Zeit entstanden, machen allerdings deutlich, wie sehr Wolfthorn traditionellen Techniken verhaftet blieb.

Mit Hitlers Machtergreifung verwehrte man der jüdischen Künstlerin die Teilnahme an Ausstellungen und belegte sie 1938 mit einem Berufsverbot. Sie selbst, erzählt Heike Carstensen, habe ein Brief nicht mehr losgelassen, den Julie Wolfthorn aus Theresienstadt an Ida Dehmel geschrieben hat und in dem sie bat: „Vergessen Sie mich nicht.“

„Anton von Werner Haus / Künstlervilla VI“ (Potsdamer Str. 87) zeigt noch bis 31. Januar eine Dokumentation über Julie Wolfthorn. Mo-Mi, 10 bis 13, Do 19 bis 21 Uhr.

Stefanie Müller-Frank

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