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Kultur: Der Feind im Souterrain

Albtraum eines Berliner Bürgers: Dirk Kurbjuweits intelligenter Psychothriller „Angst“.

Über das, was hier geschehen ist, besteht kein Zweifel: „ein Verbrechen“, sogar ein „barbarisches“, wie Randolph Tiefenthaler betont. Der Architekt ist der Ich-Erzähler in Dirk Kurbjuweits neuem Roman. Auch die Rollen von Opfer und Täter scheinen in „Angst“ von Anfang an klar verteilt: hier Tiefenthalers Nachbar Tiberius, der mit einem Kopfschuss getötet worden ist, dort sein geständiger Vater, der nun wegen Totschlags im Alter von 77 Jahren eine mehrjährige Haftstrafe in Tegel absitzt – ein hartes, aber gerechtes Urteil, findet der Ich-Erzähler, auch wenn er selbst lieber von Mord spricht. Tiefenthaler muss es wissen, denn: „Ich wollte diesen Mord, ich hatte lange genug darüber nachgedacht, es musste nun geschehen.“

Ein „Who dunnit“-Roman ist „Angst“ also offenkundig nicht. Sondern der beklemmende Rechenschaftsbericht eines Jedermanns, dessen behagliche bürgerliche Existenz für einige Monate zum Albtraum wird. Bis ihm endlich der Papa zu Hilfe eilt. Tiefenthaler will die Tat seines Vaters begreiflich machen, wozu er zunächst die Vorgeschichte erzählen muss, spannungssteigernde biografische Exkurse inklusive. Denn dass sein Nachbar „sterben musste, liegt wohl an der Geschichte meines Lebens, das kann ich nicht leugnen“. Und er will das Einverständnis des Lesers, namentlich das seiner Ehefrau. Nicht für den Mord, den Rebecca ebenso wollte wie ihr Mann, sondern für das, was sie noch nicht weiß – die „fehlenden Sätze“, um die sich der Ich-Erzähler in seinem Bericht so lang wie möglich drückt.

Die Vorgeschichte ist ein beunruhigend wirklichkeitsnahes Horrorszenario. Man zieht in eine neue Wohnung, und ein Nachbar entpuppt sich als Psycho, als Stalker. Während die Tiefenthalers mit ihren zwei Kindern in dem idyllischen Gründerzeithaus im Berliner Stadtteil Lichterfelde im Hochparterre wohnen, lebt unter ihnen, im Souterrain, wo ja seit jeher die Hunde vermutet werden, „Herr Tiberius“. Der Liebhaber von Dustin-Hoffman-Filmen lebt von Hartz IV und hat eine dunkle Heimkindheit hinter sich, Missbrauch inbegriffen. Erst macht Tiberius nur anzügliche Bemerkungen in der Waschküche, bald darauf beobachtet er das Ehepaar durchs Schlafzimmerfenster, schreibt Briefe, in denen er Rebecca beschuldigt, ihre Kinder zu missbrauchen. Dann zeigt er die Tiefenthalers an.

Dirk Kurbjuweit, von dem zuletzt der Afghanistan-Roman „Kriegsbraut“ (2011) erschienen ist, hat dieses Szenario, abgesehen vom Ausgang natürlich, mit seiner Familie vor Jahren selbst durchlebt, wie er jüngst in einem Interview offenbart hat. Vieles von dem, was nun folgt, dürfte sich daher aus den Erfahrungen des Autors speisen: die frustrierenden Gespräche mit Polizei, Anwältin und Jugendamt, die schleichende Vergiftung des Ehelebens, die Inszenierung eines normalen Familienalltags, der längst jede Selbstverständlichkeit verloren hat. Eine Inszenierung für die Kinder ebenso wie für den unsichtbaren Richter im Kopf.

Und dann ist da noch die wachsende Paranoia, verbunden mit gärenden, kompensatorischen Gewaltfantasien als Folge der erfahrenen Hilflosigkeit. Keiner will zwar Tiberius’ Anschuldigungen so recht glauben, aber helfen kann oder will den Tiefenthalers auch niemand. Die Vorstellung, die Familie zur Not irgendwie selbst vor der drohenden Gefahr schützen zu müssen – denn wer, wenn nicht selbst ein Pädophiler, würde solche Anschuldigungen erheben? –, setzt sich mehr und mehr durch, verbunden mit einer schleichenden, vom Ich-Erzähler schonungslos nachgezeichneten Barbarisierung von Denken und Sprache. „Das Schwein“ nennt Rebecca in ihrer Verzweiflung und Wut den Nachbarn schon bald, die „Kellerassel“, manchmal auch den „Untermenschen“.

Dass Randolph Tiefenthaler diese Entwicklung im Rückblick mit genau jener Mischung aus Reue und Selbstkritik beurteilt, wie man es von einem vernünftigen Menschen erwarten kann, gehört zum Clou von Dirk Kurbjuweits Roman. Sein Protagonist ist ein gebildeter, zivilisierter Mensch, wie jedem seiner reflektierten Sätze zu entnehmen ist. Randolph Tiefenthaler versteht sich als „ein Mann des Rechtsstaats“, als jemand, der stolz ist auf seine aufgeklärte Bürgerlichkeit: „Wer bürgerlich ist, betrachtet die Welt nicht aufgeregt, nicht hysterisch.“

Letzteres bleibt freilich ein frommer Wunsch, denn das Grundgefühl in Randolph Tiefenthalers Leben ist die Angst – Angst vor den Zornesausbrüchen seiner Frau genauso wie vor seinem Vater. Hinter dem Architekten liegt nicht nur eine, wie er wiederholt beteuert, „normale“ Kindheit und Jugend in einer kleinbürgerlichen Familie im West-Berlin des Kalten Krieges. Sondern auch das Gefühl, ein „Überlebender“ zu sein: „Für mich war zuhause ein Ort, an dem man erschossen werden konnte.“ Erschossen vom eigenen Vater, einem Waffennarren, der nie ohne Schusswaffen das Haus verließ und der auch bei seinen Kindern die Leidenschaft für das Schießen zu entwickeln versuchte.

Allein die Existenz dieser Waffen, die schiere Möglichkeit ihrer Verwendung, nährte die – unbegründeten – Angstvorstellungen des Ich-Erzählers wie jene, der zornige Vater könnte eines Nachts ins Zimmer kommen und ihn erschießen. Erst die Bedrohung der eigenen Familie bietet ironischerweise die Gelegenheit, den langjährigen Vater-Sohn-Konflikt zu beenden – und ebenso seine kriselnde Ehe zu kitten.

Die der Hauptfigur in den Mund gelegten Reflexionen über den Zusammenhang von Waffenbesitz und (Un-)Sicherheitsgefühl lesen sich stellenweise wie ein Beitrag zur jüngsten Waffendebatte. Überhaupt spielt der gewiefte „Spiegel“-Journalist, der Dirk Kurbjuweit ja hauptberuflich ist, beständig aktuelle Themen an: von dem der Falschbeschuldigung bis zur Frage der Selbstjustiz. Es sind zu viele, muss man mit Blick auf den Erzählfluss sagen. Packend ist dieser ambitionierte Psychothriller des preisgekrönten Reporters gleichwohl und trotz der allzu vorhersehbaren Pointe sympathisch intelligent obendrein. „Angst“ zeigt eindringlich, wie dünn und wenig belastbar die Haut der Zivilisation in Wahrheit doch ist, und bestätigt damit jene Einsicht, an die zuletzt der Kriminalpsychiater Hans-Ludwig Kröber erinnert hat: Jeder von uns kann zum Mörder werden. Oliver Pfohlmann

Dirk Kurbjuweit: Angst. Roman.

Rowohlt Berlin,

Berlin 2012.

256 Seiten, 18,95 €.

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